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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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ebenso wenig kann er Rechenschaft von mir verlangen, sich enttäuscht zeigen oder mich anklagend ansehen mit diesem unendlichen Jammer, diesem gewaltigen Schmerz, nicht einmal streifen oder anhauchen kann er mich, nichts kann man mit ihm mehr anstellen.

Endlich brachte ich genug Entschlossenheit auf, vielleicht auch nur Langeweile oder das Verlangen, die Furcht abzuschütteln, die mich periodisch überfiel, oder die Ungeduld, das frühere Ich zu sehen, das immer noch liebte, weil es nicht etwa verschwunden war, sondern die Oberhand über das befleckte, düstere behielt, wie das lebende Bild über jeden Toten, auch wenn er vor langer Zeit gestorben ist. Ich bestellte die Rechnung, bezahlte, trat wieder auf die Straße und schlug die Richtung ein, die ich so gut kannte, zu jener Wohnung, die ich so oft gar nicht besucht habe und die nicht mehr existiert – oder in der Díaz-Varela nicht mehr wohnt, weshalb sie für mich nicht mehr existiert –, die ich jedoch nie vergessen werde. Meine Schritte waren noch langsam, ich hatte keine Eile, anzukommen, schlenderte eher wie auf einem Spaziergang, als dass ich einem bestimmten Ort zustrebte, an dem man mich seit einer Weile schon erwartete, um etwas mit mir zu besprechen, das heißt, um mir wieder Fragen zu stellen oder etwas zu erzählen, oder vielleicht sollte ich erzählen oder zum Schweigen gebracht werden. Mir kam noch ein Zitat aus den
Drei Musketieren
in den Sinn, das mein Vater nicht im Mund führte, das ich jedoch auf Spanisch kannte; was einen in der Kindheit beeindruckt, überdauert wie eine Lilie, die sich in unsere Phantasie gebrannt hat: Jene gezeichnete, am Baum erhängte Frau, ursprünglich Anne de Breuil, kurzzeitig Nonne, dem Kloster entlaufen, dann flüchtig die Gräfin de la Fère und später bekannt als Charlotte, Lady Clarick, Lady de Winter, Baronin von Sheffield (als kleines Mädchen hatte mich immer erstaunt, dass man in einem einzigen Leben so oft den Namen wechseln kann), in der Literatur einfach nur als ›Mylady‹ verewigt, war nicht gestorben, genau wie der Oberst Chabert. Doch wenn Balzac in aller Ausführlichkeit das Wunder seines Überlebens beschreibt und wie er sich aus der Pyramide von Gespenstern herausarbeitete, auf die er nach der Schlacht geworfen worden war, hatte sich Dumas dagegen, den man vielleicht stärker zum Abliefern, zu immer neuen Handlungssträngen drängte und der als Erzähler natürlich ungenierter, unbekümmerter war, nicht die Mühe gemacht – oder zumindest erinnerte ich mich nicht daran – zu erzählen, wie zum Teufel die junge Frau dem Tod entronnen war nach ihrem Erhängen aus Leidenschaft, diktiert vom Zorn und der verletzten Ehre, maskiert als niedere und hohe Gerichtsbarkeit eines Lehnsherrn. (Ebenso wenig erklärt er, weshalb ein Ehemann im Bett die tragische Lilienblüte übersehen hatte.) Unter Einsatz ihrer strahlenden Schönheit, ihrer List und Skrupellosigkeit – vermutlich auch ihres Grolls – war sie mächtig geworden, besaß die Gunst von Kardinal Richelieu höchstpersönlich und hatte ein Verbrechen aufs andere gehäuft, ohne jede Reue. In Dumas’ Roman begeht sie etliche mehr und wird womöglich zur bösesten, giftigsten, unbarmherzigsten Frauengestalt der Weltliteratur, später bis zum Überdruss nachgeahmt. In dem Kapitel mit der ironischen Überschrift »Eine Eheszene« kommt es zur Begegnung zwischen Athos und ihr, die ihren ehemaligen Gatten und Henker erst nach ein paar Sekunden schaudernd wiedererkennt, da sie ihn für ebenso tot gehalten hatte, wie er seine innig geliebte Frau, in seinem Fall mit triftigerem Grund. »Ihr habt schon einmal meinen Weg gekreuzt«, sagt ihr Athos, oder etwas in dieser Art, »ich glaubte Euch niedergeschmettert zu haben, Madame, aber entweder habe ich mich getäuscht, oder die Hölle hat Euch wiedererweckt.« Er entscheidet diesen Zweifel gleich selbst: »Ja, die Hölle hat Euch wiedererweckt, die Hölle hat Euch einen anderen Namen gegeben, die Hölle hat Euch fast ein anderes Gesicht verliehen; doch weder hat sie die Flecke auf Eurer Seele noch das Brandmal auf Eurem Leib ausgelöscht.« Gleich darauf folgt das Zitat, das mir auf meinem letzten oder vorletzten Gang zu Díaz-Varela in den Sinn kam: »Ihr hieltet mich für tot, nicht wahr, wie ich Euch für tot gehalten habe. Unsere Lage ist doch seltsam; wir lebten bisher nur, weil wir einander für tot hielten, und weil eine Erinnerung weniger beengt als ein lebendiges Wesen, obgleich eine

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