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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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in Tyburn eine große Hinrichtung stattfinden. Als Nicolas schon früh morgens aufstand und sich anzog, um dort hinzugehen, hielt Mary es nicht länger aus.
    »Ich komme mit«, sagte sie und sprang aus dem Bett, »welche Kostümierung? «
    »Ärmlich und abgerissen. Aber willst du wirklich? So eine Hinrichtung ist eine scheußliche Angelegenheit.«
    »Ich werde es überstehen. Laß uns gehen.«
    Der Tyburn-Hügel lag vor den Toren Londons und dort befand sich die Stätte, wo viele zum Tode verurteilte Gefangene aufgehängt, enthauptet oder verbrannt wurden. Wenigstens einmal in der Woche rollten die Karren mit den Delinquenten von den stinkenden, rattenübersäten Gefängnissen hinaus nach Tyburn, und jedesmal fand sich eine große Menschenmenge ein, die das blutige Schauspiel voller Grauen und Begeisterung verfolgte. Hinrichtungen galten noch immer als großes Amüsement, schöner als Hahnenkämpfe oder Froschhüpfen. Da bereits auf den Diebstahl von zwei Pence der Tod stand, Scharen von gestrandeten Existenzen in London
sich aber nur durch Diebstahl über Wasser halten konnten, war der Vorrat an Verurteilten fast unerschöpflich. Es gab Leute, die sagten, daß kein Handwerk in dieser Zeit einträglicher sei als das des Scharfrichters.
    Auch heute hatte sich bereits eine dichte Menschenmenge in Tyburn versammelt, als Mary und Nicolas dort ankamen. Mary fröstelte unwillkürlich, als sie den grasbewachsenen Hügel sah, auf dessen Spitze der Galgen stand und sich schwarz und hoch vom blauen Sommerhimmel abhob. Der Henker stand bereits breitbeinig daneben, die Arme lässig vor der Brust verschränkt, eine schwarze Kapuze mit schmalen Augenschlitzen über dem Kopf. In einiger Entfernung stand ein Priester, sicherlich einer, der bereits den Eid auf den König geleistet hatte, und brütete stumpf, sichtlich unter der Hitze leidend, vor sich hin. Gerade wurden die Karren mit den Todgeweihten herangezogen. Es waren mehrere schmutzige, mit verdrecktem Stroh ausgelegte Leiterwagen, in denen bleiche, zerlumpte Elendsgestalten kauerten.
    »Was haben die Verurteilten getan?« erkundigte sich Mary flüsternd.
    Nicolas grinste.
    »Taschendiebstahl und Raubüberfälle. Sie sind unsere Vorgänger gewissermaßen. «
    »Vorgänger?«
    »Auf dem Weg ins Himmelreich. Nein, nein, Mary, du brauchst nicht so blaß zu werden. Uns passiert nichts.«
    Er begann sich zwischen die Menschen zu schieben und Mary folgte ihm wie gewohnt. Aber sie konnte ihren Blick nicht von dem Galgen wenden. Sie fror, obwohl die Sonne warm schien. Sie beobachtete, wie die Verurteilten aus ihren Karren gezerrt wurden, wie der erste von ihnen zum Priester ging, ein paar kurze Worte von ihm gesagt bekam, ehe er die Stufen zum Schafott hinaufkletterte. Mary nahm die leisen wollüstigen Seufzer der Zuschauer wahr, das erregte Glimmen in ihren Augen, aber auch den scharfen Schweißgeruch, der ihnen, nun da sie zitterten vor Gier, heftiger entströmte, und widerwillig dachte sie: Was sind sie doch für ein Pack!
    Sie bemerkte, daß Nicolas offenbar schon an der Arbeit war,
denn er blieb kurz neben einem dicken, reichen Mann stehen, ehe er weiterdrängte. Es herrschte eine unglaubliche Spannung, die Luft schien zu knistern, denn jetzt wurde dem ersten Dieb die Schlinge um den Hals gelegt. Dies war ein günstiger Moment, denn die volle Aufmerksamkeit der Menschen richtete sich auf den Galgen, niemand beobachtete Nicolas.
    Mary mochte nicht zusehen. Sie fand Tyburn zu gräßlich und am liebsten wäre sie nach Hause gegangen. Aber da erblickte sie plötzlich vor sich eine ältere Frau, die ein Kleid aus Samt trug und zu den wenigen reichen Frauen gehörte, die hier anwesend waren. Sie hatte ein hartes, zerfurchtes Gesicht und ein Netz aus Perlen über dem weißen Haar. Am rechten Handgelenk trug sie ein breites Armband aus Gold.
    Mary zögerte einen Moment. Die Gelegenheit schien ihr günstig, denn der Arm der Alten hing herab, ihre Aufmerksamkeit richtete sich nach vorn, wo gerade der Nächste die Stufen zum Galgen hinaufgezerrt wurde. Mary fing an, leicht zu zittern, der Schwindel in ihrem Kopf verstärkte sich. Stimmengewirr und Bilder um sie herum traten zurück, wurden rauschend und flimmernd.
    Ich tu’ es nicht, dachte sie, nein, es wäre Wahnsinn. Ich bin die Nächste, die da vorne hängt...
    Irgend etwas aber trieb sie vorwärts, es mochte die Hitze sein, die Atmosphäre von Tyburn, der Galgen, die Elendsgestalten in den schmutzigen Karren, der schwarzverhüllte

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