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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Henker, die johlenden Menschen. Die Todesverachtung, die über diesem Ort schwebte, infizierte so schnell und so heillos wie die Pest. Mary war angesteckt, ehe sie es richtig begreifen konnte und im gleichen Augenblick, wo vorne der nächste Delinquent starb, streifte sie blitzschnell der Frau das Armband über die Hand und ließ es in ihre Rocktasche gleiten.
    Mary fühlte eine tiefe Erschöpfung und eine ruhige Zufriedenheit. Es war viel schöner, als nach ihrem Erlebnis mit Archibald Claybourgh. Die Gefahr war viel fürchterlicher, der Triumph größer, der Sieg süßer. Mary schob ihre Hand in die Tasche und preßte ihre Finger gegen das sonnenwarme Metall.
    Oh, Mutter wäre jetzt stolz auf mich, dachte sie unwillkürlich.
Aber auch Nicolas war stolz. Als sie ihm zu Hause das Armband zeigte, hob er es prüfend gegen das Licht, dann pfiff er anerkennend durch die Zähne.
    »Reines, schweres Gold«, sagte er, »Mary, das ist ein hervorragender Fang. Du bist nicht nur sehr geschickt, du hast offenbar auch bereits den Sinn für lohnende Gelegenheiten.« Er legte das Band auf den Tisch zurück und nahm Mary in die Arme.
    »Wie hast du es nur geschafft, in so kurzer Zeit alle deine Skrupel zu besiegen?« fragte er zärtlich.
    Mary lachte, aber es schien ihm, als schwinge eine Spur von Wehmut darin.
    »Ich habe vielleicht inzwischen den Eindruck, daß es die Welt nicht wert ist, ihr mit Skrupeln gegenüberzustehen«, erwiderte sie, »sie ist mit uns ja auch nicht allzu vorsichtig, oder?«
    An diesem Abend tranken sie zur Feier des Tages Wein und aßen gekochten Seetang mit Essig. Mary kannte dieses Gericht noch nicht, aber Nicolas hatte ihr vorher versprochen, sie werde begeistert sein, und er behielt recht. Der reiche Beutezug vom Mittag hatte ihn überschwenglich gemacht und ließ ihn wie leicht betrunken erscheinen, gerade so sehr, daß er nicht betrunken, sondern hellwach, lebendig und mitreißend charmant wirkte. Mary, die ihm gegenüber saß, sah ihn an, willenlos von ihm angezogen, und plötzlich dachte sie, daß sie auf der Stelle mit ihm schlafen wollte.
    Zuerst überraschte sie ihre eigene Sinnlichkeit. Sie wußte, daß sie auf Nicolas heftig reagierte, wann immer er es darauf anlegte, und daß sich daran sechs Monate nach der Hochzeit nichts geändert hatte. Aber sie hatte, wie Nicolas immer wieder lachend behauptete, eine puritanische Seele, und verlangte nach einer gewissen Ordnung. Sie wollte ihn immer nachts lieben. Und jetzt senkte sich zwar die Abenddämmerung über die Stadt, aber draußen war es noch immer hell, die Vögel zwitscherten und helle, fröhliche Stimmen drangen von der Straße nach oben. Kein Mensch schlief, es kam Mary vor, als belauschten tausend Menschen ihre geheimsten Gedanken und diese Vorstellung trieb ihr das Blut heiß in die Wangen.
    Aber dann, als sie in Nicolas’ Augen sah, verstand sie. Er fühlte
das gleiche, und wußte, warum sie gerade jetzt einander so begehrten. Es war Tyburn, der Galgen, der Tod. Sie hatten sich ihm herausfordernd in den Weg gestellt und in dem Lächeln, das sie einander zuwarfen, schwang Triumph. Es war ein illusionsloses Siegeslächeln, mit dem sie einen weiteren gewonnenen Tag feierten.
    Du bist wie ich, Nicolas, dachte sie, wir haben beschlossen, das Leben zu überstehen, koste es, was es wolle. Nicht wie Frederic, dieser törichte, gute Junge, der an seinem eigenen Edelmut sterben mußte. Ach, Nicolas...
    Sie verstand die Zärtlichkeit in seinen Augen, die Weichheit in seinem Lächeln; es waren ihre Weichheit und ihre Zärtlichkeit, ein bißchen verschüttet und niedergetrampelt vom Schicksal, aber lebendig wie junges Gras, stark und bereit, sich wieder aufzurichten.
    Sie fielen übereinander her an diesem Abend, als seien sie seit Urzeiten miteinander vertraut und lernten sich doch erst heute kennen. Ihre Körper fieberten einander entgegen, nahmen einander in hemmungsloser Ungeduld auf, liebkosten, entdeckten, suchten und fanden sich in atemloser Überraschung. Es war Mary, als verschmelze ihrer beider Blut, ihre Sinne, ihre Seelen. Sie lagen aneinandergepreßt, erschöpft und still. Zu keiner Zeit ihres Lebens, nicht einmal unter dem Weidenbaum von Marmalon, hatte sie sich so geborgen gefühlt. Die Welt draußen versank, das Leben existierte einzig noch in diesem Zimmer. Mary strich mit den Fingern über Nicolas’ starke, schwarze Augenbrauen.
    Ich liebe ihn, dachte sie, warum habe ich es nur nicht gleich, von Anfang an gemerkt!
    Ihr Hunger

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