Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Anne, weil sie immer so feine Kleider trug, meist aus grauem, zartem Wollstoff, mit Perlen bestickt und von Goldfäden durchzogen. Von ihren Haaren konnte man nur den dunklen Ansatz sehen, alles übrige verbarg sich unter einer schneeweißen Haube, die ebenso makellos schien wie ihre Besitzerin.
Zweifellos war Anne Brisbane nach Lord Fairchild und dessen Frau die wichtigste Person im Haus. Die Dienstboten hatten vor ihr sogar mehr Respekt als vor der alten Lady und jede Anweisung von ihr wurde eilig ausgeführt. Bess lästerte zwar jeden Abend auf dem Heimweg über Anne und hatte eine ganze Reihe häßlicher Namen für sie bereit, aber wenn sie ihr gegenüberstand, wurde sie ganz klein und demütig und wagte nie eine Widerrede.
Wie die meisten Menschen, die Mary zum erstenmal sahen, wurde auch Anne sofort von einem tiefen Gefühl des Mitleids für das kleine Mädchen erfaßt. Sie sorgte dafür, daß das Kind häufig an ihrer Seite sein durfte, und Mary bekam so neben dem Unterricht im Lesen und Schreiben einen Einblick in tausend andere Dinge eines adeligen Alltags. Sie bewies täglich neu ihre schnelle Auffassungsgabe, vergrub sich bereits nach sechs Wochen in der Schloßbibliothek, wo sie in finsteren Ecken hockte, den Kopf dicht über eines der schweren, in Leder gebundenen Bücher gebeugt. Einmal hatte sie sich sogar mit der Kerze in der Hand die Haare versengt, ohne es überhaupt zu merken, so sehr war sie in die fremde, ungeahnt
phantastische Welt der geschriebenen Worte eingetaucht. Sie fing an, alles zu lesen, was ihr in die Finger kam, auch die von Regen und Sonne gebleichten Steckbriefe an den Bäumen, auf denen Diebesgesindel und Mörder gesucht wurden, oder Flugblätter, von denen manchmal sogar welche in Shadow’s Eyes auftauchten und die in hämischen Worten den Scheidungsprozeß des Königs in London und sein Verhältnis zu der »hergelaufenen Hure Anna Boleyn« kommentierten. Durch die Fähigkeit, politische Schmähschriften zur Kenntnis zu nehmen, erweiterte sich nun auch ihr Wissen auf diesem Gebiet. Zugleich wuchs die Sehnsucht, noch mehr von den Geschehnissen ihrer Zeit zu erfahren. Es war merkwürdig: wann immer sie ein Buch gelesen, eine Gestalt der Geschichte, ein neues Land, eine Sage kennengelernt hatte, fühlte sie sich keineswegs gesättigt, sondern nur noch gieriger. Mit verschärfter Wahrnehmungsfähigkeit lauschte sie auf jedes Wort, das zwischen Anne und Cathleen gewechselt wurde und ordnete es in das Gerüst von Wissen ein, das sie nun besaß.
Auch ihr großes mimisches Talent kam ihr jetzt zugute. Viel mehr, als sie selbst wußte, imitierte sie bereits nach wenigen Wochen Haltung, Sprache und Bewegungen von Anne Brisbane und Lady Cathleen. Sie bemühte sich um die feine Akzentuierung, die Anne auf jedes Wort legte, gewöhnte sich einen graziösen Gang an, merkte sich, wie eine Dame sich setzte, den Fächer hielt, wie sie lächelte und sich die Hand küssen ließ. Zwar kam ihr all dies überaus unnatürlich vor, aber es schien zu den notwendigen Regeln eines Spiels zu gehören, das man beherrschen mußte, um in den Kreis derer, die es pflegten, aufgenommen zu werden.
Eine instinktive Vorsicht bewahrte Mary davor, auch nur etwas von dem neuen Wissen und den neuen Künsten daheim preiszugeben. Sie wußte, daß sie sich auf einem hauchfeinen Grat bewegte. Sie hatte sich jetzt ein klein wenig Achtung bei Lettice erworben, aber sie ahnte, daß die in ungezügelten Neid umschlagen konnte, sobald Lettice begriff, wie weit sich ihre Tochter dem Kreis der Familie tatsächlich schon entzogen hatte. Wenn Ambrose irgendein verschmutztes Flugblatt mit heimbrachte und es Mary vor die Nase hielt mit der scheinheiligen Aufforderung, ihm doch vorzulesen,
was dort stand, dann fing sie an, mühsam zu buchstabieren, stotterte herum, rätselte an jedem Buchstaben. Ambrose geriet vor Vergnügen außer sich, wenn Mary schließlich aufgab und mit piepsender Stimme erklärte, so viel noch nicht gelernt zu haben. Er brüllte vor Lachen, schlug mit der Faust immer wieder auf den Tisch und stieß hervor: »Da kann Mylady sich die Zähne ausbeißen, wirklich, an so einem dummen Kind!«
Und Mary schlug die Augen nieder, um Zorn und Verachtung zu verbergen, die sie für ihren Vater empfand.
Natürlich war es wesentlich schwieriger, Lettice an der Nase herumzuführen oder Bess. Beide konnten sehr mißtrauisch sein. Lettice blickte Mary manchmal scharf an und sagte: »Ich werde das Gefühl nicht los, Mary, daß
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