Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
ins Zimmer, und Mary zitterte nach kurzer Zeit am ganzen Körper. Sie zog die Beine eng an sich und umklammerte sie mit beiden Armen. Hundert Nächte hatte sie schon so verbracht, zitternd und elend, kalt und schlaflos. In dieser Nacht aber regte sich Haß in ihr, harter, schonungsloser Haß, dessen sie sich zum ersten Mal nicht schämte und den sie nicht zu bekämpfen suchte.
Ich hasse Mutter, dachte sie gleichmütig, mein Gott, warum habe ich das nicht eher gemerkt? Und Vater hasse ich auch, und Edward und Bess, verkommene Bande, die sie sind...
Sie brauchte sich nicht mehr zu entschuldigen, denn endlich war sie ganz sicher, daß sie nicht so sein und nicht so leben müßte. An Frederic und Bruce hatte sie es immer gesehen und jetzt an Lady Cathleen wieder. Es gab Menschen, die freundlich miteinander umgingen, die ruhig waren und sanft. Die nicht mitten in der Nacht aus ihren Betten geworfen wurden und sich wie verwundete, kleine Katzen in verborgene Winkel zurückziehen und zitternd auf die Morgendämmerung warten mußten.
Mary war entschlossen, es nicht länger hinzunehmen. Sie wollte ein anderes Leben, und wenn Frederic sich davonmachte und sie allein ließ, dann mußte sie eben selbst sehen, wie sie ihr Ziel erreichte. Sie mußte auf ihr Glück zugehen, so wie sie jeden Tag auf das helle, glänzende Licht am Ende der düsteren Gasse zuging. Nans Geister hatten ihr den Weg gezeigt, der direkt nach Fernhill führte, und Gott oder der Teufel mochten wissen, wie es von da aus weiterging.
Ich lerne lesen und schreiben, dachte sie triumphierend, und ich werde Lady Cathleens Zofe!
Sie hörte ihr Herz stark und schnell pochen, was sie bewußt noch nie so wahrgenommen hatte. An Lettice und Bess hatte sie stets den wachen und klaren Verstand bewundert, dabei hatte sie ihn ja selber, sonst hätte Cathleen ihr doch nie diesen Vorschlag gemacht. Sie hielt den Kopf hoch, kümmerte sich nicht länger um die Kälte und um den stechenden Schmerz, der schon wieder in ihrer Brust zu bohren begann, sondern sah mit glänzenden Augen zum Fenster hinaus, hinter dem es sanft nieselnd zu regnen begann. Trotz allem, was sie bereits erlebt hatte, war sie noch jung und arglos genug, den Gedanken an Niederlagen unbedenklich beiseite schieben zu können.
In den folgenden Wochen mußte Mary erkennen, daß die neue Kraft, die sie in jener Nacht so schwindelerregend heftig in sich gefühlt hatte, nicht so leicht zu bewahren war, wie sie gedacht hatte. Wenn sie frühmorgens müde und übernächtigt die Treppe hinunterkam, und die Küche betrat, durchzuckte sie noch das gleiche schmerzliche Gefühl der Verlassenheit beim Anblick von Lettices kalten, grünen Augen wie früher. Sie fühlte sich noch immer versucht, um ihre Gunst zu betteln, ebenso wie sie nach wie vor von panischer Fluchtbereitschaft befallen wurde, sobald sie Edward auch nur von weitem sah und er mit seinem tückischen Grinsen auf sie zukam, was immer bedeutete, daß er sie quälen wollte, ihr auf die Füße springen, daß sich die Zehen blau verfärbten oder ihr Gesicht zwischen beide Hände nehmen und immer fester drücken, bis sie glaubte, ihr Kopf müsse zerspringen. Immerhin gelang es ihr nun schon manchmal, den Wunsch, davonzulaufen, zu bezähmen, mit zusammengebissenen Zähnen stehen zu bleiben und ohne Tränen alle Schmerzen zu erdulden. Innerlich aber bebte sie vor Zorn und war erfüllt von dem Gedanken: Mach du nur, was du willst, Edward, aber nimm dich in acht, daß du nicht eines Tages für all dies bitter wirst zahlen müssen!
Im übrigen gelang es ihr jetzt natürlich besser, mit ihm auszukommen, denn sie war von morgens bis abends in Fernhill. Zuerst
verrichtete sie ihre Arbeit als Küchenmädchen, und Gladys sorgte dafür, daß sie sich dabei nicht überanstrengte. Die übrige Zeit verbrachte sie mit Anne Brisbane, der engsten Vertrauten und Freundin von Lady Cathleen. Anne Brisbane war 34 Jahre alt. Sie war die Tochter eines Londoner Kaufmannes und hatte sich während eines längeren Aufenthaltes der Familie Fairchild in London in die Dienste der alten Mylady begeben. Sie wurde das Kindermädchen der damals zweijährigen Cathleen und schließlich deren Zofe.
Anne war sehr hübsch, aber es gab keinen Mann in ihrem Leben. In Shadow’s Eyes tuschelte man, sie sei nichts für Männer.
»Lady Cathleen reicht ihr völlig«, flüsterten die Marktweiber, um gleich darauf schrill zu lachen. Mary begriff nie, was daran so komisch sein sollte. Sie bewunderte
Weitere Kostenlose Bücher