Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Mitleid. Sie dachte an den schwerverletzten Tallentire und an die endlosen Monate des Schreckens, da sie an keinem Tag gewußt hatte, ob ihr Marmalon am nächsten noch gehören würde. Die Erinnerung schmeckte bitter auf der Zunge, wurde aber nicht zum Zorn. Erstaunt merkte sie, daß Anne gar nichts mehr in ihr auslöste. Sie war ihr gleichgültig und fern, wie eine Gestalt aus einer längst vergessenen Geschichte. Sie war eine Frau, die mit Marys Zukunft nichts mehr zu tun haben würde, daher wurde sie uninteressant. Wichtig waren Sir Hadleigh und Cathleen und die anderen Nachbarn, der Krieg, der Handel mit dem Kontinent, die steigenden Getreidepreise, das Wetter, die Ernte. Und Nicolas...
Nicolas war der Zauber, auf den Mary hoffte. Marmalon füllte zwar ihr Denken, es war alles, wofür sie kämpfte und arbeitete, stritt
und sich mit Gott und der Welt schlug, aber die Triumphe, die sie errang, gaben ihrem Leben nicht jenen warmen Glanz, an den sie sich erinnerte, wenn sie an Nicolas und ihre alte, baufällige Wohnung über dem Sherwood Inn in London dachte. Wie ein Kind sehnte sie sich nach der Geborgenheit alter Tage, in denen das Leben weniger selbständig, dafür umsorgter und behüteter war. Sie sehnte sich nach Nicolas. Er war ihre Zukunft, und mit einer Gleichgültigkeit, die sie selber erstaunte, begriff sie, daß sie Anne Brisbane vielleicht schon in der nächsten Woche vergessen haben würde.
Ein Blick in die Halle sagte ihr, daß die Gäste nun alle der Kapelle zuströmten, aus der der Gesang eines Chores erklang. Die Luft war erfüllt von dem Geruch nach Kerzen und Weihrauch, vermischt mit dem der Weine und Parfüms. Kelche wurden abgestellt, die Schleppen der Seidenkleider raschelten leise über den Boden. Eine ruhige, friedliche Stimmung breitete sich aus.
»Ich gehe jetzt«, sagte Mary, »ich möchte die Trauung miterleben. Auf Wiedersehen, Miss Brisbane.«
Sie warf keinen weiteren Blick auf die schwarzgekleidete Gestalt vor ihr. Ein erwartungsvolles Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie empfand Cathleens Hochzeit als einen besonderen Triumph des wohlmeinenden Schicksals über das böse, und das erfüllte sie mit Genugtuung. Schwungvoll wandte sie sich zur Tür und blieb überrascht stehen. Vor ihr, wie aus dem Boden gewachsen, stand Mr. Tallentire.
Mary brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu fassen.
»Was tun Sie denn hier?« fragte sie dann. »Ich habe Sie gar nicht kommen gehört.« Ihre Augen blickten verwundert, aber arglos. Was wollte Tallentire bei Cathleens Hochzeit?
Er griff nach ihrem Arm und führte sie ein paar Schritte weit fort, obwohl das unnötig war, denn Anne saß dort so tief versunken in ihre Gedanken, daß sie gar nicht zugehört hätte. »Sie müssen sofort nach Hause kommen, Madam«, sagte er leise und erregt, »es ist etwas... «
»Was ist denn?«
»Nichts Schlimmes. Wir wissen nur nicht...«
Mary wurde bleich. »Was denn, um Gottes willen?«
»Es ist ein Mann aufgetaucht in Marmalon. Niemand von uns kennt ihn, aber er behauptet... Mr. de Maurois zu sein. Nicolas de Maurois. «
Die Worte, so leise sie gesprochen waren, schienen Mary in dem leeren Gang widerzuhallen. Sie wirkte so fassungslos, daß Tallentire ihren Arm fester umschloß.
»Nun regen Sie sich nicht so auf«, sagte er sanft. Seine Stimme beruhigte Mary etwas, aber ihr Herz schlug heftig.
»Das kann doch gar nicht sein«, sagte sie, »du lieber Himmel, es kann nicht... oh, ich muß sofort nach Marmalon. Wenn es wirklich Nicolas ist...« Die Erregung trieb ihr das Blut in die Wangen und ließ ihre Hände zittern. Schon wollte sie davoneilen, da griff Tallentire noch einmal nach ihrem Arm und hielt sie zurück.
»Eines noch, Mrs. de Maurois. Ich denke, auch das sollten Sie wissen, ehe Sie jetzt nach Marmalon gehen. Mr. Mackenzie...« Er zögerte, und Mary, nervös wie sie war, fuhr ihn ungeduldig an: »Herrgott, was ist denn mit Charles Mackenzie?«
Sie bemerkte etwas in Tallentires Augen, was sie für Verachtung hielt; sie begriff, daß er mehr von ihr und Charles wußte, als sie geahnt hatte. Und jetzt mokiert er sich über meine Interesselosigkeit, dachte sie empört, ach, wegen eines Abends soll ich mein Leben lang weiche Knie bekommen, wenn ich nur Charles’ Namen höre! Was sich diese Priester einbilden! Dabei ist jetzt nur Nicolas wichtig...
»Was ist mit Charles?« wiederholte sie scharf und wußte im selben Moment, daß es nicht Verachtung war, was sie in Tallentire gespürt zu haben
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