Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
einen schwerwiegenden Fehler. Sie hätte dasein müssen, dann hätte er nicht anzuklopfen brauchen wie ein Fremder, wäre nicht von Dilys und Allison unhöflich angestarrt, von Tallentire mißtrauisch behandelt worden. Und plötzlich wurde sie sich auch ihres aufgeputzten Äußeren unangenehm bewußt. Daß sie gerade heute so aussehen
mußte! Er kam aus dem Tower, trug ein sauberes, aber völlig zerrissenes Hemd, uralte Hosen, abgelaufene Schuhe, und sie stand in blauer Seide vor ihm, eine verspielte blaue Samtschleife im Haar und Spitzenkrausen um die Handgelenke. Sie duftete nach einem feinen Parfüm und hatte gerade eine Wachtel mit frischen Pilzen verzehrt, dazu kostbaren, dunkelroten Wein getrunken. Sie dachte an sein Wasser und Brot der vergangenen sieben Jahre, und Scham erfüllte sie. Sie hob hilflos die Hände.
»Ich komme gerade von einem Fest«, erklärte sie schwach.
Nicolas nickte. »Ich sehe es«, erwiderte er. Sein Blick glitt über ihre Gestalt, blieb an ihrem tiefen Ausschnitt hängen. Er lächelte, als er sah, daß sie dies bemerkte und es sie in Verlegenheit setzte.
»Ich sehe es. Du bist wunderschön.«
»Ich laufe nicht jeden Tag so herum...«
»Du mußt dich doch nicht rechtfertigen, Mary.«
Irgend etwas lief falsch, ganz falsch. So sollte ihre erste Begegnung nicht sein. Anstatt einander in den Armen zu liegen, standen sie fünf Schritte voneinander entfernt und sagten belanglose Dinge. Sie hätten ihre Gesichter aneinanderpressen und weinen müssen, ihren Schmerz hinausschluchzen um die vergangenen sieben Jahre, und ihr Glück über die Zukunft, die ihnen blieb. Statt dessen sprachen sie kühl und höflich miteinander, als seien sie Fremde, die sich zufällig getroffen hatten, aber kein großes Interesse aneinander fanden. Und auch das Bild, das Mary sich von Nicolas gemacht hatte, stimmte nicht. Eigentlich war alles gerade andersherum als in ihrer Vorstellung. Da war er elend und krank gewesen, starrend vor Schmutz, aber leuchtend vor Freude. Nun sah er gar nicht so schlimm aus. Natürlich war er zu blaß, nichts von seiner früheren Sonnenbräune war geblieben, er hatte Schatten unter den Augen und graue Strähnen in seinem dunklen Haar. Aber seine Haltung war aufrecht, seine Gestalt magerer zwar, aber nicht gebrechlich. Hingegen fand Mary nicht das Glänzen in seinen Augen, von dem sie geträumt hatte. Sie konnte gar nichts in diesen Augen finden, die früher so geblitzt und gefunkelt hatten. Schwarz und ausdruckslos sahen sie an ihr vorbei.
»Du siehst gar nicht schlecht aus«, sagte sie.
Nicolas blickte an sich hinunter. »Ich wollte dir würdig gegenübertreten«, erwiderte er, »und deshalb habe ich gebadet, bevor ich herkam, meine Sachen waschen lassen und meinen wüsten Bart abgenommen. Sogar die Haare haben sie mir geschnitten.«
»Wer denn?«
»Freunde in London. Ich habe viele dort, auch jetzt noch.«
» Oh ... gut. « Aber Mary fühlte sich gekränkt. Er war nicht als erstes zu ihr geeilt, als er aus dem Tower gekommen war, sondern alte Freunde hatte er besucht. Sie bemühte sich, ihre Verletztheit nicht zu zeigen. »Wenn du mir geschrieben hättest, dann hätte ich dich doch abgeholt«, sagte sie.
»Ich weiß. Aber ich wollte nicht sofort hierher. Ich bin noch ein bißchen in London herumgeschlendert, in den Gassen am Südufer, an der London Bridge und vor dem Sherwood Inn...« Die Sehnsucht in seiner Stimme gab Mary einen Stich im Herzen. Es war eine Sehnsucht, die sie kannte. Mit diesem Ton hatte sie von Marmalon gesprochen, aber er konnte doch nicht im Ernst diese dreckige, lärmende, enge Stadt lieben!
»Ich war nur selten in London«, sagte sie.
Nicolas nickte. »Warum solltest du auch dieses hübsche Nest hier verlassen? Aber ich sage dir, die Stadt hat sich gar nicht verändert. Es ist dasselbe Sündenbabel wie immer. Die Marktleute preisen kreischend ihre Waren an, bei jedem Schritt stolpert man über einen Bettler, die Themse stinkt wie der größte Abfallhaufen aller Zeiten, und an jeder Ecke lauern Straßenräuber, diese todesverachtenden Halunken mit ihren schnellen Fingern...« Jetzt glomm endlich ein Leuchten in Nicolas’ Augen. »Weißt du noch, Mary? Wir beide in Tyburn. Ich erinnere mich genau an diesen Tag und an die fette Beute, die wir heimschleppten. Du brachtest ein Armband und warst so stolz, als hättest du einen siegreichen Feldzug geführt. Wo ist es eigentlich? Du wolltest es immer tragen!«
»Ich mußte es verkaufen.«
»So? Na ja,
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