Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
gut nach London kommst.«
»Danke. Und jetzt geht.« Anne machte eine ungeduldige Handbewegung zur Tür hin, und als Cathleen zögerte, schrie sie: »Nun geht endlich!«
Cathleen fing wieder an zu weinen und stürzte hinaus. Mary warf noch einen letzten Blick auf Anne. Sie wußte, daß sie dieses letzte Bild nicht mehr vergessen würde. Anne saß aufrecht in ihrem Sessel, ihr schwarzes Kleid war wie immer bis unter das Kinn geschlossen, unter den wilden Haaren leuchtete ihre schöne Haut gespenstisch weiß. Mary forschte in sich nach einer Empfindung des Hasses, denn sie dachte an die Monate, in denen sie unter Claybourgh gelitten
hatte, und noch jetzt wurde ihr schlecht davon. Aber zu ihrer Verwunderung fand sie keinen Haß. Diese alte Frau dort war zu einsam und zu zerbrochen. Inmitten der Trostlosigkeit dieses trüben Tages überfielen Mary plötzlich Erinnerungen. Sie dachte zurück an eine nebelige Herbstnacht, sie und Anne zogen einen Karren durch die Gassen Londons, darin lag der Leichnam Lord Cavendors. Ihrer beider Herzklopfen, ihre Angst, ihr Mißtrauen, mit dem sie jedem Entgegenkommenden ins Gesicht blickten, einten sie. Mary wußte, in diesen Stunden hätte eine bedingungslos zur anderen gestanden. Und heute, was war aus ihrer einstigen Verschwörung geworden? Sie teilten den Gewinn und zerstreuten sich in alle Winde. Auf einmal fand sie es bedrückend, daß im allzu schnellen Wechselspiel des Lebens ebenso viel Hoffnung wie Erbarmungslosigkeit lag.
Cathleen war hinunter auf den Hof gelaufen und stand im Regen, naß und frierend wie eine heimatlose Katze. Sie sah Mary angstvoll entgegen.
»Was soll nur aus ihr werden?« fragte sie. »Sie war so seltsam!«
»Sie fällt wieder auf die Füße. Anne Brisbane ist zäh. Wissen Sie, Menschen, die zu sehr lieben und deren Liebe nicht erwidert wird«, sie dachte an Charles und daran, ob er wohl jetzt bei dem scheußlichen Wetter wenigstens einen trockenen Platz hatte, »solche Menschen müssen irgendwann einmal alles hinter sich abbrechen und ein ganz neues Leben beginnen.«
»Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe.«
»Gar nichts. Höchstens, daß Sie sich ihr viel zu lange unterworfen haben. Aber —irgendwelche Fehler machen wir nun wirklich alle.«
Sie stiegen auf ihre Pferde. Cathleens große Augen hingen in gläubigem Vertrauen an Marys Lippen.
»Nein«, sagte sie überzeugt, »Sie nicht. Sie machen keine Fehler. «
Mary verzog ihr Gesicht. »Oh, wenn Sie wüßten ... ach, ich habe manches falsch angefangen ... «
»Aber was fehlt Ihnen denn noch, um glücklich zu sein?«
»Oh, es ist... mein Mann, er...«
»Er ist zurückgekommen gestern, nicht? Überall spricht man davon. «
Mary dachte amüsiert, daß den Klatschmäulern in der Provinz tatsächlich nie etwas entging.
»Ja, er ist wieder da. Aber er ist so seltsam. Was mir noch fehlt? Ihn will ich!«
»Dann nehmen Sie ihn sich!«
»Diesmal«, sagte Mary düster, »beiße ich mir die Zähne aus.«
In Cathleens kindlichem, zarten Gesicht mischten sich Zweifel und Besorgnis. Ihr Glaube in Marys Fähigkeiten war unerschütterlich und sie wollte ihn sich nicht zerstören lassen, nicht heute, wo bereits so vieles zu Bruch gegangen war. In einer fast trotzigen Gebärde, die man nur sehr selten an Cathleen sah, hob sie das Kinn. In ihren Augen stand die wilde Entschlossenheit eines Kindes, das sich alte, schöne, verzaubernde Märchen bewahren will.
»Es wird alles gut werden für Sie«, sagte sie, und es klang erstaunlich überzeugend, »Sie formen immer alles nach Ihrem Willen. Warum sollte es Ihnen plötzlich nicht mehr gelingen?«
Die Worte klangen noch in Marys Ohr, als sie in Marmalon anlangte und ins Haus trat. Angewidert schwenkte sie ihre nassen Röcke. Bis auf die Wäsche war sie durchweicht! Dilys mußte ihr unbedingt ein heißes Bad machen. Sie strich sich die tropfenden Haare aus der Stirn und blickte auf, als sie Schritte hörte. Nicolas kam die Treppe herunter.
Er hatte noch immer die gleiche elegante Art, sich zu bewegen, wie früher, jene herausfordernde, lässige Haltung, mit der er jeden Schritt tat. Den Kopf hatte er hoch erhoben, so, als habe er gerade einen großen Auftritt vor sich und als sei es kein gewöhnlicher Tag, an dem er eine gewöhnliche Treppe hinunterging. Mary kannte das schon, so war es immer gewesen. Nicolas liebte die große Pose.
Wahrscheinlich wäre er noch zu seiner Hinrichtung geschritten wie ein König zu seiner Krönung, dachte sie, bei
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