Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
all seiner Angst vor dem Tod – Tyburn wäre eine reizvolle Kulisse gewesen für den Größten der Taschendiebe!
Der Gedanke an Tyburn ließ Mary zusammenzucken. Ihr ging auf, welch ein unglaubliches Wunder es war, daß Nicolas tatsächlich vor ihr stand. Wenn es einen Gott gab, so war dies die größte Gnade, die er ihr und Nicolas je erwiesen hatte. Dem Todgeweihten hatte er im letzten Moment den Kopf aus der Schlinge gezogen, ihm sieben Jahre genommen, aber was wog dies im Vergleich zu seinem Leben? Auf einmal spürte Mary, wie eine heiße, wilde Wut in ihr aufstieg. Nicolas, der größte Halunke von ganz London, wußte er nicht, wie verteufelt gut er weggekommen war? Der Herzensbrecher, der offenbar stets unter den gütigen Augen eines wohlmeinenden Gottes lebte, war mit heiler Haut aus einer Sache hervorgegangen, die andere den Kopf gekostet hätte, reichlich gerupft zwar und angeschlagen, aber lebendig. Und wie lebendig! Marys Blick umfaßte die Silhouette seiner Gestalt, die schmalen Hüften, die langen Beine, die sich federnd bewegten, die schlanken, kräftigen Hände, mit denen er Jahre hindurch so überaus kunstfertig seinem gewissenlosen Handwerk nachgegangen war. Alles an ihm schien unbeeinträchtigt von den Geschehnissen. Ihr Zorn wurde heftiger. Diese verdammte Zeit, in der sie lebten, dieser verfluchte König mit seiner gnadenlosen Justiz, seiner egoistischen Politik! Er hatte ihr schon so viel zerstört. Er hatte ihr Frederic und Marmalon genommen, er hatte Nicolas in den Kerker geworfen und es einem bösartigen Steuereintreiber gestattet, um ein Haar wieder alles zu zerstören. Aber trotz allem hatte sie aus den Trümmern der Zeit, in die sie gestellt war, ihr eigenes Leben gerettet, ihre Burg gebaut und Nicolas zurückgeschenkt bekommen. Weder der König noch die Reformation, nicht der Galgen von Tyburn, nicht das Armenhaus und nicht die Intrigen aller ihrer Feinde hatten sie vernichten können. Sie stand auf ihrem Grund, auf ihrem Land, sie war immer noch sehr jung, sie war schön und gesund, sie hatte Wunden davongetragen, aber sie war nicht besiegt worden. Und da kam nun Nicolas daher, so stark und so schön wie sie selbst, und drohte alles, was Mary sich bewahrt hatte, ins Wanken zu bringen. Wie konnte er es wagen, wie konnte das Schicksal es wagen? Mary empfand die gleiche kraftvolle Wut wie damals, als Claybourgh erschienen war, um sie endgültig in die Knie zu zwingen, und sie ihm und der ganzen schadenfrohen
Meute entgegengetreten war. Wieder vernahm sie Cathleens Worte: »Sie formen das Leben nach Ihrem Willen!«
Und die Menschen auch, wenn ich es will, dachte sie zornig, oh, Gott verdamme dich, Nicolas, wenn du mich verläßt! Ich liebe dich, und ich brauche dich, und ich geb’ dich nicht her!
»Nicolas«, sagte sie mit klarer Stimme. Nicolas, der sie bis dahin nicht bemerkt hatte, sah überrascht auf.
»Ach, Mary, du bist es«, antwortete er zerstreut, »guten Morgen. «
»Guten Morgen? Es ist bereits Mittag!«
»Oh... dann habe ich verschlafen. Das ist lustig, nicht? Ich habe sieben Jahre lang darauf gewartet, daß ich etwas anderes tun kann als schlafen, und seitdem ich in Freiheit bin, mache ich fast nichts anderes. «
»Du hättest heute früh auch mit mir ausreiten können.«
»Ja ...« meinte er vage. Mary trat ein paar Schritte näher. Sie schaute sich nicht einmal um, ob vielleicht Dilys oder Allison in der Nähe waren und lauschten, denn es war ihr in diesem Augenblick ganz gleichgültig, ob ihr jemand zuhörte oder nicht.
»Nicolas, ich will, daß du dich daran erinnerst, wie es war, als wir heirateten«, sagte sie ohne jeden Übergang, »an dem Abend, als du nach Shadow’s Eyes kamst und meinen Vater um meine Hand batest. Weißt du das noch?«
»Ja, aber...«
»Du wolltest mich. Du bist zu mir gekommen. Verstehst du? Du bist zu mir gekommen, nicht ich zu dir. Du hast gewählt, und niemand hat dich zu deiner Wahl getrieben. Am wenigsten ich selbst.«
Nicolas hörte ihr verwundert zu.
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst!«
»Ach, nein?« Mary machte eine hochmütige Miene. »Ich möchte nur, daß du ganz genau weißt, wer wen ausgesucht hat. Du nämlich mich. Und zwar als den Menschen, der ich bin. Vielleicht hast du dich geirrt, aber deshalb kann ich mich nicht ändern. Ich kann nicht plötzlich die Frau werden, die deinem Traumbild entspricht.«
»Ich will doch auch gar nicht...«
»Was du mir vorwirfst, das gehört zu mir, und das kann ich
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