Die Sternseherin
manchmal altmodische Art fand sie einfach unwiderstehlich. Dieser besondere Charme gefiel ihr mindestens so gut wie seine meist fruchtlosen Versuche, den Beschützerinstinkt – der bei ihm sehr ausgeprägt zu sein schien – nicht zu stark werden zu lassen, als wisse er genau, wie sehr sie das Gefühl verabscheute, kontrolliert zu werden.
»Fast hätte ich es vergessen!« riss Manon sie aus ihren Träumereien und zog ein Handy aus der Tasche. »Ich habe es für dich geladen.«
Estelle bedankte sich und schaltete das Telefon gleich ein. Sie hatte mehrere Mitteilungen auf ihrem Anrufbeantworter und entschuldigte sich, um diese abzuhören.
Die erste Nachricht war von Selena, die ihr von einer geplanten Reise nach Frankreich erzählte. »Stell dir vor«, berichtete sie ganz aufgeregt, »dort gibt es eine Gegend, in der noch heute viele Feen leben sollen. Ich bin ja so aufgeregt!«
Feenwesen kannst du auch bei mir treffen, dachte Estelle. Doch sie freute sich, dass ihre Schwester sich nach einem arbeitsamen und aufregenden Jahr endlich einmal Urlaub gönnte.
Der nächste Anruf kam von ihrem Kommilitonen Ben. Er fragte nach, ob sie denn irgendwann wieder einmal in die Uni kommen wollte, und mutmaßte, sie sei mit dem Kerl durchgebrannt, mit dem sie dieses fantastischen Sex zwischen den Bücherregalen der Seanachas-Bibliothek gehabt hatte. »Typisch Ben!«, doch dann blieb ihr das Lachen im Hals stecken, denn die Erinnerung an jenen Nachmittag fegte wie ein heißer Wüstenwind durch ihre Seele. Sie musste sich an der Stuhllehne festhalten, weil ihre Knie nachzugeben drohten. Asher! Sie hatte ihn in der Bibliothek getroffen und sich ihm schamlos an den Hals geworfen. Oh ja, es war eine phänomenale Begegnung gewesen, besonders wenn sie bedachte, dass er ihr anschließend alle Erinnerungen daran genommen und es bis jetzt nicht für nötig gehalten hatte, ihr davon zu erzählen. Dies ließ nur einen Schluss zu: Er hielt sie für eine ebensolche Hure, wie ihre Gastgeberin Nell es war. Wer weiß, vielleicht hatte er sie nur aus diesem Grund hierher gelockt, um sich mit ihr zu vergnügen und sie, wenn er ihrer überdrüssig geworden war, an einen anderen Freier weiterzureichen. Estelle presste eine Hand auf ihren Mund, um das trockene Schluchzen zu unterdrücken, das sie zu ersticken drohte. Mit zitternden Fingern rief sie die nächsten Nachrichten auf. Sie kamen von Erik, dem Freund ihrer Zwillingsschwester. Er erkundigte sich, ob Estelle von Selena gehört habe. Im nächsten Anruf klang er schon besorgter, aber Estelles Gehirn registrierte erst, dass etwas nicht stimmte, als sie seine vierte Nachricht abhörte, in der er sie beschwor, sich bei ihm zu melden. Aufgeregt suchte sie seine Nummer heraus und drückte zwei Mal den falschen Knopf, bevor das Handy endlich eine Verbindung aufbaute. Schon nach dem ersten Klingeln meldete er sich. »Estelle? Den Göttern sei Dank, endlich! Ist Selena bei dir?«
»Ich dachte, ihr wolltet gemeinsam nach Frankreich fahren!«
»Das hatten wir auch vor, aber dann kam mir eine Familienangelegenheit dazwischen und ich musste die Reise verschieben. Selena war schrecklich enttäuscht, wir haben gestritten und am nächsten Tag war sie fort. Erst habe ich geglaubt, sie wäre zu dir gefahren, aber dann bekam Nuriya eine Postkarte. Ich habe in dem Hotel angerufen, in dem wir ein Zimmer reserviert hatten, sie ist nie dort angekommen.«
»Warum sprichst du nicht mit Kieran?«
Erik schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Die letzte Zeit war schwierig.« Er hustete. »Selbst kann ich auch nicht fahren, in ein paar Tagen ist Vollmond und meine Familie – ach, Estelle, wenn ihr nur nichts zugestoßen ist!« Estelle glaubte zu verstehen, was er meinte. Eriks Familie lehnte seinen Lebensstil ab. Erst kürzlich hatte sie erfahren, dass er der älteste Sohn eines mächtigen Clanchefs war und irgendwann einmal dessen Geschäft übernehmen sollte. Sein Job als Barkeeper und die Beziehung zu Selena wurden nicht gern gesehen. Sie machte sich ebenfalls Sorgen und hoffte, dass mit ihrer Schwester alles in Ordnung war. Hätte sie es nicht spüren müssen, falls Selena in Schwierigkeiten steckte?
Sie ließ sich Anschrift sowie Telefonnummer des Hotels geben und versprach, sich bald zu melden. Wie sie ihre Schwester kannte, wanderte diese völlig ahnungslos darüber, dass sich jemand Gedanken um sie machte, durch die Natur und hatte alles um sich herum vergessen. Was ihr allerdings Sorgen bereitete, war die
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