Die Sternseherin
Jahreszeit. Was suchte Selena kurz vor Weihnachten im Feenwald von Brocéliande? Wollte sie etwa in der längsten Nacht des Jahres, sobald der Schleier zwischen den Welten sich einmal mehr hob, einen sicheren Weg in die Anderswelt suchen? »Asher würde Rat wissen«, war ihr erster klarer Gedanke, den sie jedoch genauso schnell wieder verwarf, wie er gekommen war. Wo trieb sich Julen herum, wenn sie ihn brauchte? Womöglich steckte er mit Asher unter einer Decke. Doch das war alles nicht so wichtig, sie musste nach Frankreich und von den Vampiren hatte sie sowieso keine Hilfe zu erwarten. »Manon!«
Die Freundin kam sofort angelaufen. »Was ist passiert? Meine Güte, du bist ja weiß wie ein Gespenst.«
Estelle erzählte ihr von der verschwundenen Schwester und sagte: »Ich muss nach Frankreich fahren und sie suchen.«
»Wir sollten auf Asher warten.«
Estelle lief ins Schlafzimmer und holte ihre Reisetasche. Eine Zahnbürste und das Notwendigste sowie T-Shirts, saubere Jeans, ein warmer Pulli und Wäsche waren schnell zusammengerafft und hineingestopft. »Nein, das ist eine Familienangelegenheit, um die ich mich alleine kümmern muss. Außerdem: Wer weiß, mit wem er sich gerade herumtreibt und wann er zurückkommt!« Sie schloss den Reißverschluss.
»Ich lasse dich in diesem Zustand nicht alleine fahren!«
»Was ist mit Sara?«
»Das Risiko ist zu groß, sie bleibt hier. Wie willst du überhaupt über den Kanal kommen?«
»Mit der Bahn. Wenn ich mich beeile, erwische ich den letzten Zug noch.«
Manon spürte, dass Estelle es ernst meinte. Sie schien neben dem Verschwinden der Schwester noch etwas anderes zu beunruhigen und sie beschloss, die Freundin auf keinen Fall alleine fahren zu lassen. Diese war schon zur Tür hinaus und Manon konnte Sara nur noch zuflüstern: »Wir müssen nach Paris.« Sie versprach sich zu melden, sobald es eine Gelegenheit dazu gäbe.
Eine Stunde später saß sie im Zug und war kein bisschen klüger. Estelles Kräfte waren längst nicht mehr so schwach wie noch vor einigen Wochen, als sie als Nervenbündel bei ihr eingezogen war, und eine angespannte Energie ging von ihr aus. Leider besaß sie mentale Schutzschilde, die nicht einmal Manon durchdringen konnte. Wann immer sie einen Blick in ihre Gedanken riskierte, kam es ihr vor, als überquerte sie ein Minenfeld. »Gib es auf!«, knurrte Estelle. »Ich werde dir früh genug alles erzählen, jetzt muss ich nachdenken.«
Sie sah noch einmal aus dem Fenster, während der Zug aus dem Bahnhof fuhr, und versuchte, Kontakt mit Selena aufzunehmen. Auf kurze Entfernung hatte der stille Gedankenaustausch zwischen den Schwestern immer perfekt funktioniert, aber dies war etwas anderes, und außerdem war sie sich gar nicht so sicher, ob Selena gefunden werden wollte. Von Erik gewiss nicht, aber möglicherweise auch nicht von ihr. Ein zweiter Grund für ihre Verschlossenheit war die Angst, Asher könnte sie aufspüren. Sie begann zu meditieren und versenkte sich immer mehr in sich selbst, bis sie praktisch nicht mehr existierte. Julen ist zwar besser, aber er ist nicht der Einzige mit diesem Talent, dachte Estelle zufrieden. Ein wildes Lachen wuchs in ihr und sie zähmte es mit leichter Hand. Die Zeiten, in denen sie hilflos ihren Kräften ausgeliefert war, schienen vorüber zu sein. Die Sorge um ihre Schwester verlieh ihr ungeahnte Stärke.
XVII
Gunnar lebte! Und er war hier in London, nur eine Armeslänge von ihm entfernt, aufgetaucht. Julen raste in den Gang, in dem Estelle ihn gesehen hatte, nahm in der Tat, wenn auch nur schwach, einen familiären Duft wahr und trat in die Zwischenwelt ein, um sich auf die Suche nach seinem verschollenen Zwilling zu machen.
Stunden später saß er in seiner spartanisch eingerichteten Unterkunft auf einem wackligen Schemel, den zertrümmerten Stuhl hatte er inzwischen entsorgt, und stützte seinen Kopf in die Hände. Die überstürzte Suche war natürlich erfolglos gewesen. Er versuchte nachzudenken, aber in seinem Kopf surrte immer wieder nur ein einziger Gedanke: »Er ist zurückgekehrt!« Eine viel leisere Stimme mahnte: »Gunnar hat sich nicht bei dir gemeldet, er will vielleicht nicht von seiner Familie gefunden werden.«
Ihr Vater war tot, ermordet von Urian, wenn seine Informanten die Wahrheit sagten, und in diesem Fall hatte er keinen Grund ihnen zu misstrauen. Ihre Mutter Himeropa trieb sich in irgendwelchen Küstenstädten herum, wo sie wie eh und je arglose Männerseelen stahl. Selbst
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