Die Sternseherin
wurden abgeführt wie Verbrecherinnen, und Estelle glaubte, eine Spur von Mitleid in den Gesichtern ihrer Wächter zu sehen, als diese sie in den engen Aufzug stießen, der hinter einer Bücherwand verborgen lag. Ich hätte nie geglaubt, dass es geheime Türen in Regalattrappen wirklich gibt! Dieser Gedanke kam von Selena.
Still!
Insgeheim stimmte sie ihrer Schwester zu. Man könnte meinen, sie seien in einem Hollywoodfilm gelandet. Leider war dem nicht so, stellte sie wenig später fest, als sie den Keller des Schlosses erreichten. Hier unten befanden sie sich in einer völlig anderen Welt. In blaues Licht getauchte Zukunftsarchitektur statt historischer Kulisse. Vom neonbeleuchteten Korridor öffneten sich Türen zu verschiedenen Labors, im Licht der Leuchtdioden sah sie aufwändige Apparaturen, ansonsten schien die gesamte Anlage verwaist, da war nichts: kein Herzschlag, kein Atmen, nur Schritte – die weichen, zögerlichen ihrer Schwester, die eigenen, schnelleren und die ruhigen, lauten ihrer Gefängniswärter. Unwillkürlich sah sie hinab. Beide trugen schwere Schnürstiefel. Am Ende des Gangs befand sich eine Tür, die sich erst öffnete, nachdem einer der Männer seinen Finger in die dafür vorgesehene Mulde gelegt hatte. Hinter ihnen fügte sie sich lautlos in die kalten Wände ein, als wäre sie nie durchschritten worden.
Leid und Schmerzen schlugen Estelle entgegen. Sie strauchelte und ihr Wächter zog sie mit einem schmerzhaften Ruck wieder auf die Füße. Hastig versuchte sie, alle Emotionen um sich herum auszublenden, doch der überwältigende Geruch von Blut hing wie ein nasses Tuch in der Luft und ließ sich nicht so ohne Weiteres ignorieren. Der Mann neben ihr hatte damit offenbar keine Probleme. Im Gegenteil, er klang äußerst zufrieden, fast, als habe er die Anlage selbst errichtet. »Klasse Technik! Hier ist noch nie jemand ohne Erlaubnis wieder herausgekommen. Wenn überhaupt, dann mit den Füßen voran.« Er wirkte unaufgeregt, seine Stimme klang sogar sympathisch. Was, so fragte sich Estelle, brachte jemanden dazu, seine einzigartige Menschlichkeit, die Fähigkeit Mitgefühl zu zeigen, abzustreifen und an einem organisierten Verbrechen teilzunehmen, wie es hier augenscheinlich stattfand. Die Haut der sogenannten Zivilisation war dünner, als sie sich das je hätte träumen lassen. Standen die Sterblichen den Dämonen und anderen Kreaturen der Finsternis weit näher, als jeder von ihnen ahnte oder wahrhaben wollte?
Im Moment gab es allerdings andere Probleme. »Was für ein ›Geschenk‹ sollen wir werden?«, fragte sie. Jede Information konnte wichtig werden und der Mann schien in Plauderlaune zu sein.
»Ihr seid das Highlight des Abends. Die anderen Frauen kann jeder haben, aber ihr zwei«, er strich mit seinem Finger über ihre Wange, »ihr gehört dem Herrn ganz allein.« Neid und Verlangen ließen seine Worte noch hässlicher klingen.
»Dem Comte?« Allein die Vorstellung, dass dieser Mann sie berühren könnte, schnürte ihr nahezu den Atem ab.
»Aber nein, ihr seid unsere Opfergabe an den Fürsten der Finsternis!« Selenas Augen weiteten sich vor Entsetzen und sein Kollege klang wütend. »Halt den Mund!«
»Was willst du? Die Mädchen überstehen die Nacht mit dem Dämon sowieso nicht unbeschadet, warum sollen sie nicht wissen, dass sie ihre Seele für einen guten Zweck hingeben?«
»Der Tag ist nicht fern, da landest du selbst in einem dieser Käfige.« Der zweite Wächter legte einen Schalter um und gleißendes Licht blendete sie. Der Raum war viel größer, als Estelle anfangs sehen konnte, und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Raubtierhaus eines Zoos – dort, wo die Besucher nicht hingelangten. Rechts und links reihte sich Käfig an Käfig, jeder mit armdicken Gitterstäben bewehrt. Darin standen Pritschen, nein eigentlich OP-Tische, wie Estelle sie von ihren zahllosen Tierarztbesuchen mit irgendeinem der Vierbeiner kannte, die Selena immer auflas. Doch anstelle pelziger Haustiere lagen Vampire auf dem glänzenden Metall. Jeder einzelne mit einem Pflock paralysiert, der seine Brust durchstieß und entfernt an ein überdimensionales Fahrradschloss erinnerte. Jeder der Gefangenen hatte mindestens eine Kanüle im Arm. Die daran angeschlossenen, dünnen Schläuche endeten vor den Käfigen bei etwas, das bei genauerem Hinsehen wie eine Art Hightech-Zapfanlage wirkte. Bildschirme zeigten, soweit sie es in der Eile erkennen konnte, Daten über den Zeitpunkt der
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