Die Sternseherin
Kontakt mit der Vampirin aufzunehmen. Sie hatte sich noch nie zuvor in Telekinese versucht, wusste aber, dass ihre Mutter die Fähigkeit, Gegenstände mithilfe ihrer Gedanken zu bewegen, beherrscht hatte. In den vergangenen Wochen waren ihre Kräfte deutlich stärker geworden und einen Versuch war es wert. Sie wandte sich an die reglos daliegende Frau. Nekane? Eine schwache Reaktion bestätigte ihre Vermutung, dass dies in der Tat der Name ihrer Mitgefangenen war. Kannst du mich hören? Als Antwort erhielt sie das Bild eines ausgestreckten Mittelfingers, konnte aber deutlich Panik spüren.
Hör zu, reden können wir später. Bist du stark genug, den Pflock aus deinem Herzen zu entfernen?
Glaubst du, wenn ich das könnte, wäre ich noch hier? Estelle merkte, wie ihr die Gedanken der Gepeinigten entglitten. Der Vergewaltiger beugte sich über sein Opfer.
Mach einfach mit! Ihr Gehirn schrie diese Worte fast, um noch bis zum Bewusstsein der Vampirin vorzudringen und Estelle gelang es dabei trotzdem konzentriert ihre Energien weiter zu bündeln. Selena, hilf mir!
Lange Zeit geschah nichts. Nekanes Panik wuchs. Und dann, als Estelle die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und auf dem Sprung war, um den widerlichen Kerl eigenhändig zu erwürgen, spürte sie eine winzige Bewegung in der Atmosphäre. Die Zeit schien vollends stillzustehen und plötzlich löste sich eine Handfessel. Klirrend fiel sie zu Boden. Nekane half ihnen nicht, sie wirkte nun auch mental wie gelähmt.
Selena gab einen erstickten Laut von sich. Der Pflock!
Millimeter für Millimeter begann das Eisen sich zu bewegen. Inzwischen machte sich der Mann an dem Gürtel unter seinem dicken Bauch zu schaffen. Seine Finger zitterten und schließlich nahm er beide Hände zu Hilfe.
Jetzt! Estelle ließ all ihre Kraft frei und spürte, wie Selenas Energien sich mit den ihren vereinten. Der Pflock zitterte, und dann tat es einen Schlag wie im Zentrum eines tropischen Gewitters. Heiße Energie ließ ihre Gefängniszelle in magischem Licht erglühen.
»Was zum Teufel ...?« Der Mann taumelte zurück. Im selben Moment erhob sich Nekane von ihrer Folterbank wie eine ägyptische Rachegöttin aus dem ewigen Schlaf. Sie streckte die Arme aus und stürzte sich auf ihren Peiniger, der mit einem gurgelnden Schrei zu Boden ging. Das Schlürfen und Grunzen hatte nichts mit Estelles Fantasien zu tun, wenn sie von einer noch innigeren Verbindung mit Asher träumte. Sie konnte Nekanes Hunger fühlen, als sie sich über der leeren Hülle des widerlichen Sterblichen erhob und zu ihr umdrehte. Die Wunde in ihrer Brust begann bereits sich zu schließen. Urian!, hörte sie die Vampirin in ihren Gedanken flüstern und spürte, wie spitze Zähne über ihre Haut kratzten. Estelle glaubte für einen Moment, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Dein Blut ist süßer als Ambrosia, doch anstatt sie zu beißen, hob Nekane den Kopf, fauchte und fuhr gerade rechtzeitig herum, um den Angriff eines hochgewachsenen Mannes zu parieren, der sich aus dem Nichts materialisiert hatte. Schnell wurde klar, dass sie ihm nicht gewachsen war. Da tat Selena etwas völlig Unerwartetes. Sie öffnete ihren Mund, um den Schrei einer Banshee, einer der gefürchtetsten Feen, von sich zu geben. Der fremde Vampir wich zurück und hielt sich seine gepeinigten Ohren zu. Dieser kurze Moment reichte aus, um Nekane zur Flucht zu verhelfen. Ich komme wieder! Ihre Konturen wurden unscharf und fort war sie. Estelle konnte nicht entscheiden, ob es eine Drohung oder ein Versprechen war, was sie soeben gehört hatte.
Wütend, dass die Weiber ihn ausgetrickst hatten, drehte Urian sich zu den Zwillingen um, zweifellos, um sie zu töten. Doch dann erstarrte er in der Bewegung. »Was habt ihr hier verloren?« Auch ohne den verräterischen Feuerkranz um seine Pupillen, die zu länglichen Schlitzen geworden waren, und trotz der irreführenden Reißzähne, die lang und gefährlich den geöffneten Mund auszufüllen schienen, wusste Estelle, dass kein normaler Vampir vor ihr stand. Er lächelte böse, offenbar erfreut über ihre Angst. Estelle griff nach der eiskalten Hand ihrer Schwester und die gemeinsame Magie gab ihr Kraft genug, um mit fester Stimme zu sagen: »Hallo Urian! Ich fürchte, nun haben wir dir die Überraschung verdorben« Sie spürte seine Verwirrung. »Dabei hat der Comte eine Menge Geld für unsere Entführung bezahlt.«
Urians Gedanken rasten und sie konnte jeden einzelnen davon lesen. Dieser Idiot!
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