Die Sternseherin
zumindest wenn es um Wein ging.
Als sie sich auf die andere Seite drehen wollte, fiel ihr ein ungewöhnlicher Duft auf. Sie nahm Spuren von frischer Zitrone und Tabak wahr, einem exotischen Holz, Olivenblüte und – Asher. Bisher hatte sie nicht einmal gewusst, wie er roch. Aber was auch immer ihr in die Nase stieg, war unverwechselbar und sie war nicht wenig beeindruckt von ihrem plötzlich so exzellenten Geruchssinn. Vielleicht lag das aber einfach nur am Kater. Estelle hob ihr Kopfkissen und darunter lag, säuberlich zusammengefaltet, sein Taschentuch. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht erinnern, wie es dort hingelangt war.
Sie döste noch eine Weile, beschloss dann, die Uni zu schwänzen, und machte sich stattdessen einen faulen Tag im Bett. Am Nachmittag hatte sich ihr Kopfschmerz so weit gelegt, dass sie ein wenig lesen konnte. Manon schien Spätschicht zu haben, jedenfalls ließ sich ihre Mitbewohnerin nicht sehen, und Estelle genoss ausnahmsweise einmal das Alleinsein. Bis zu dem Moment, als etwas an ihre Balkontür knallte. Sollte ein Vogel dagegen geflogen sein und jetzt hilflos dort draußen auf der Terrasse liegen? Schnell warf sie sich ihren Morgenmantel über und öffnete die Tür.
»Julen!«
Anstelle des Vögelchens hockte der Elf auf dem Geländer und rief: »Was für eine Aussicht!«
Nun, immerhin ist er am Leben – besser, wenn es auch so bliebe, dachte sie. »Komm sofort da runter, du wirst dich zu Tode stürzen! Wie bist du überhaupt auf das Dach gekommen?«
»Oh, ich war schon öfter hier, gestern Abend zum Beispiel.« Estelle spürte, wie die Hitze ihre Wangen zum Glühen brachte. »Lass dich mal ansehen, du hast dich verändert. Es steht dir ausgezeichnet«, beeilte er sich zu sagen, als habe er ihre Röte falsch interpretiert. »Bist du verliebt?« Lässig schwang er seine Beine über das Geländer und kam näher. »Ist dieser nächtliche Besucher dein neuer Freund?«
»Spinnst du? Ich habe ihn gestern zum ersten Mal gesehen!«
»Und gleich in dein Schlafzimmer eingeladen? Du bist ein böses Mädchen.«
Estelle wollte widersprechen, bis sie sein Gesicht im Schein der Zimmerlampe sah. »Ach, du Schuft! Als wüsstest du nicht genau, dass Manon den ganzen Abend dabei war. Asher ist ein Freund von ihr«, fügte sie sicherheitshalber noch hinzu. Dieses Geplänkel erinnerte sie an den gemeinsamen Heimweg vom Pub, und es hatte ihr gefehlt.
Erst jetzt schien er den Morgenrock zu bemerken. »Du wolltest schon zu Bett gehen?«
»Ich bin noch gar nicht aufgestanden«, gestand sie lachend und drehte sich dabei im Kreis, bis die zarte Seide aufflog und ihre langen Beine zeigte. Was fiel ihr nur ein, so kokett zu sein?
Julen konnte seinen Blick kaum abwenden. Schließlich räusperte er sich. »Wunderbar. Dann kannst du ja gleich dein Versprechen einlösen.«
»Ich habe nichts versprochen.«
»Aber ja, du wolltest mit mir ins Kino gehen! Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mich geradezu angefleht.«
»Bestimmt nicht!« Aber sie erinnerte sich natürlich an ihr Versprechen, mit ihm ins Kino zu gehen, wenn er sie bis zur Haustür bringen würde. »Da ich nichts anderes zu tun habe, könnte ich mir die Sache noch einmal überlegen.«
»Dann zieh dich an – und los geht’s!«
Estelle raffte in Windeseile ein paar Sachen zusammen und verschwand im Bad. Julen musste nicht lange auf sie warten.
»Komm her!« Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang angenommen, und Estelle lief zur Terrasse, um zu sehen, was los war. Ehe sie wusste, was mit ihr geschah, hatte er sie in seine Arme gezogen. Und der beruhigende Duft, der ihr schon beim ersten Mal aufgefallen war, hüllte Estelle ein, bis sie buchstäblich den Boden unter den Füßen verlor und zu fliegen glaubte. »Lass deine Augen geschlossen!«, murmelte er und wenig später: »Jetzt kannst du sie wieder aufmachen.«
Der eigentümliche Schwindel ließ je nach, aber sie hielt sich weiter haltsuchend an ihm fest. Als sie sich endlich umsah, standen sie in einer dunklen Gasse. Wenige Schritte weiter war das größte Kino der Stadt.
»Ich wusste es!«, keuchte sie.
»Was wusstest du? Dass ich Karten für eine Shakespeare-Verfilmung besorgt habe? Was für eine Enttäuschung. Meine Überraschung ist nicht gelungen. Wer hat dir das erzählt?«
Sie trat ihm gegen das Schienbein. »Ich wusste, dass du nicht normal bist!«
»Das wird ja immer schöner«, er hüpfte anklagend auf dem unverletzten Bein herum, »erst trittst
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