Die Sternseherin
Wärmflasche ins Bett steckte. Danach setzte sie sich zu Ben in die Küche, wo dieser bereits eine halbe Flasche Wein geleert hatte. »Was hat sie gemacht?«
»Ich habe keine Ahnung. Wir waren zusammen in der Seanachas-Bibliothek, du weißt schon, wo sie nur Mitglieder hineinlassen und alles.«
»Und alles ...?«
»Entschuldige, ich bin ein wenig aufgeregt.«
»Und dann redest du immer so, verstehe! Alte Internatsgewohnheiten nehme ich an?«
»Nein. Ja. Willst du nun die Geschichte hören oder eine Diskussion über die klassenlose Gesellschaft vom Zaun brechen?«
Manon sah ihn nur an.
»Na also!« Er nahm einen Schluck und räusperte sich. »Gibst du mir mal das Brot rüber?« Schnell duckte er sich, als sie erbost einen Kanten nach ihm warf, den nächsten fing er dann geschickt auf. Nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte, war ihm klar, dass selbst Manons sprichwörtliche Geduld nicht endlos sein würde. »Soweit ich weiß, wollte sie dort nach einem Buch suchen, also habe ich sie mit hineingenommen. Ich muss wohl eingenickt sein. Zu viel Wissen kann einem den Kopf verwirren – und alles.«
»Dann müsstest du eigentlich völlig klar sein.« Manon nahm ihm das Glas aus der Hand. »Trink nicht so viel, du verträgst keinen Alkohol.«
»Wer sagt das?«, verlangte er mit schwerer Zunge zu wissen.
»Du. Und jetzt erzähl weiter!«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Irgendwann hat sie mich geweckt und war in diesem merkwürdigen Zustand.« Er wurde plötzlich blass. »Meinst du, es hat jemand – mit Gewalt und so? Sein Entsetzen war ehrlich und Manon beruhigte ihn: »Opfer sehen anders aus. Estelle saß mindestens auf Wolke sieben, sie hat sogar gesungen!«
»Und das bedeutet?«
»Unsere hinreißende Freundin versteht sich gewiss auf viele Dinge. Singen gehört allerdings nicht zu ihren Stärken und zum Glück weiß sie das auch. Sie hat erzählt, das letzte Mal hat sie mit vier Jahren gesungen, weil ihr Vater ihr einen Teddy geschenkt hat, den sie sich von ganzem Herzen gewünscht hatte. Kurz darauf sind ihre Eltern gestorben.«
»Wie tragisch!«
»Ja, es ist schlimm, so früh seine Eltern zu verlieren.«
»Das auch, natürlich! Ich meine aber – stell dir das einmal vor, du triffst einen Liebhaber, von dem andere ein Leben lang träumen, und kannst dich anschließend nicht erinnern, wer dieser Götterbote war!«
»Sie weiß nicht, mit wem sie ...?« Manon beschlich eine böse Ahnung. Doch anstatt Ben ihre Vermutung anzuvertrauen, stand sie auf und ging zur Tür. »Das wird ihr morgen bestimmt wieder einfallen. Frauen sind so.«
»Du spinnst.« Ben tippte sich an die Stirn. »Im Ernst? Da bin ich aber froh, dass wir ganz anders sind. Mich hat noch keiner vergessen!«
Das mochte zwar stimmen, aber war er nicht selbst vor kurzem von einem unheimlichen Fremden wie besessen gewesen, bis ihn seine Freundin in den Highlands von dessen Zauber befreit hatte? Es erschien ihm ein wenig seltsam, dass nun Estelle von einem Unbekannten verführt worden war. »Typisch, mein Pech!«, dachte er. Wenn er schon besessen gewesen sein musste, warum hatte er dann nicht auch diesen sensationellen Sex erleben dürfen?
Während Estelle in dieser Nacht von zärtlichen Händen auf ihrer Haut träumte, widerstand Asher der Verlockung, einen tieferen Blick in ihre Gedanken zu werfen, und versuchte stattdessen, sein Wissen über das Grimoire aufzufrischen. Die Nachforschungen in den Bibliotheken des Rats erwiesen sich als wenig erfolgreich. Er erfuhr nichts Neues. Diverse Quellen zweifelten überhaupt an dessen Existenz. Im frühen achtzehnten Jahrhundert, so hieß es, habe sich eine Gruppe von Sterblichen auf die Suche gemacht, deren Nachfahren sich seither in einem Geheimbund organisierten. Zweifellos, um in dunklen Nächten von den Möglichkeiten zu träumen, die ihnen ein Buch voller Zaubersprüche verhieß. Asher musste zugeben, dass sich die magische Welt in diesem Punkt kaum von der Welt der Sterblichen unterschied. Auch deshalb hatte er Estelle seit geraumer Zeit nicht mehr aus den Augen gelassen. Er fand den jungen Vengador ziemlich dreist, ausgerechnet eine Schwester der Auserwählten zu umgarnen, außerdem war eine Reise durch die Zwischenwelt nie ganz ungefährlich. Asher runzelte seine Stirn. Der Junge riskierte viel, um sie zu beeindrucken. Vielleicht zu viel.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, hob ein Glas und betrachtete das Kerzenlicht, wie es sich in den geschliffenen Facetten brach
Weitere Kostenlose Bücher