Die Sternseherin
untersuchen, hatte sie erschöpft, aber seltsamerweise auch irgendwie beflügelt. Während Ben allmählich erwachte, schaute sie noch einmal hinauf, dorthin, wo sie frech die Absperrung ignoriert hatte. Ein übermütiges Kichern stieg in ihr auf. Estelle fühlte sich wie eine Katze, die nach einem ausgiebigen Mahl nichts anderes im Sinn hatte, als sich ein sonniges Plätzchen für ihren Verdauungsschlaf zu suchen. Satt, faul und ein wenig anlehnungsbedürftig. Wahrscheinlich lag dies daran, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit ihre Magie sinnvoll eingesetzt hatte, ohne von einer Vision heimgesucht zu werden.
Ben stemmte sich aus dem Stuhl hoch, er streckte seine Gliedmaßen und sie hätte es ihm am liebsten gleichgetan. Als aber sein Pullover dabei hochrutschte und gebräunte Haut zeigte, weckte dieser Anblick ein sanftes Vibrieren tief in Estelles Bauch. Sehnsüchtig streckte sie die Hand aus, um ihn zu berühren. »Ben!«, flüsterte sie mit rauer Stimme.
Einen Moment lang sah er sie irritiert an, dann zog er den Wollstoff betont langsam herunter. »Cara Mia, komm mir bloß nicht auf falsche Gedanken!« Sein herzhaftes Gähnen holte sie wieder zurück in die Realität. Der strenge Blick des Bibliotheksmitarbeiters brannte in ihrem Genick. Schlafen und räkeln war hier nicht gern gesehen, erkannte nun auch Ben und steckte rasch seinen Krimi ein. Dann griff er nach dem Ärmel seiner Freundin, die, wie er fand, ein eigentümliches Grinsen im Gesicht trug, und zog sie hinter sich her zur Garderobe. Sie sah ihren Mantel in der Hand ratlos an, so dass er ihr schließlich hineinhalf und sie danach die Treppen hinab auf die Straße führte.
»Wir nehmen ein Taxi«, sagte er entschieden und winkte. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, im Feierabendverkehr ein freies Taxi anzuhalten. Estelle trat von einem Bein auf das andere und wäre jetzt liebend gerne durch die Zwischenwelt gereist. Als endlich ein Wagen am Straßenrand stoppte, hatte der Regen Asphalt und Bürgersteig bereits in spiegelnde Flächen verwandelt und die beiden bis auf die Haut durchnässt. Mit klammen Fingern öffnete Ben für sie die Tür und kaum saßen beide im Warmen, beschlugen schon die Scheiben. Estelle malte lächelnd Gesichter mit ihrem Zeigefinger darauf, und als der Fahrer sich nach ihrem Ziel erkundigte, antwortete sie: »Nach Hause!«
Weil sie auf weitere Nachfragen nicht reagierte, nannte Ben ihm schließlich die Adresse. Ein wissendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Taxifahrers aus und er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Ben hatte so eine Ahnung, was der Mann dachte, und hätte ihm gerne widersprochen. Er trug gewiss keine Schuld an Estelles verklärtem Zustand, aber es interessierte ihn brennend, was passiert war. »So E. T., jetzt sag mir sofort, was du mit meiner Freundin gemacht hast! Gib es zu, du hast sie in eine Grinsekatze verwandelt.«
Estelle machte ein ratloses Gesicht.
»Was ist los? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Dies wenigstens rief eine Reaktion hervor, wenn es auch nur ein Kopfschütteln war.
»Komm schon! Du siehst aus, als ob dich der Heilige Geist gestreift hat. Oder – du hattest den besten Sex deines Lebens!« Er sah sie genauer an und dabei fielen ihm ihre vom Küssen leicht geschwollenen Lippen auf. Ben begann zu lachen. »Das ist es, stimmt’s? Du hattest heißen, hemmungslosen Sex zwischen all den verstaubten Büchern!« Der Taxifahrer starrte in den Rückspiegel. »Vorsicht!«, mahnte Ben und beugte sich vor, um das kleine Fenster der Glaswand zu schließen, die den Fahrgastraum vom vorderen Bereich trennte. Die Ampel sprang auf Rot und er musste Estelle festhalten, damit sie nicht vom Sitz rutschte, als der Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. »Du glühst ja immer noch.« Er strich über ihre Wange. »Sag nicht, du hast es mit einem dieser bebrillten Buchbinder getrieben?« Normalerweise brachte er Estelle mit solchen Formulierungen zum Lachen. Aber jetzt berührte sie ihre Lippen mit den Fingerspitzen und flüsterte kaum hörbar: »Ich weiß es nicht!«
Er begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Erst der begehrliche Blick, mit dem sie ihn beinahe dazu gebracht hätte, seine sexuelle Orientierung noch einmal zu überdenken, und nun diese ganz besondere Verträumtheit, die vermutlich jeden anderen Mann völlig verrückt gemacht hätte. Er begleitete Estelle bis hinauf in ihre Wohnung, wo Manon ein Bad für sie einließ und die Freundin schließlich mit einer
Weitere Kostenlose Bücher