Die Sternseherin
um unbedeutende Jugendliche ging. Als die Sprösslinge einflussreicher Familien betroffen waren, haben sie endlich reagiert?«
»So ist es. Leider, muss ich hinzufügen. Es ist illegal, wenn ein Blutpate, ganz gleich aus welchem Grund, sein Geschöpf im Stich lässt. Kein Wunder also, dass die meisten geschwiegen haben. Einige aber besaßen immerhin so viel Anstand, ihr Vergehen auf Nachfrage zuzugeben. Sie erklärten, die mentale Verbindung, die naturgemäß zwischen Paten und Novizen besteht, sei bald nach deren Verschwinden abgebrochen.«
»Also sind sie tot?«
»Davon muss man ausgehen«, bestätigte Julen, der nun endlich seinen Mund aufmachte. »Wenn die Entführten auch nicht gerade, sagen wir mal, zu den Honoratioren gehören, können wir derartige Vorgänge nicht tolerieren.« Er wurde den Verdacht nicht los, Asher bisher unterschätzt zu haben. Warum kannte er diese Details? Offenbar hatte er Verbindungen in die höchsten Kreise. Womöglich war sogar er es gewesen, der jeden seiner Annäherungsversuche bei Estelle vereitelt hatte. Wie auch immer, der Vampir wachte über die Feentochter. Erst das schnelle Eingreifen, als sie beim Konzert einen Anfall bekommen hatte, und nun seine Anwesenheit in Dublin sprachen dafür. Julen erinnerte sich genau an seine Worte: »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, wirst du wünschen, nie geboren worden zu sein!«, hatte Asher ihm damals zwischen zusammengebissenen Zähnen zugezischt. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, was ihn zu diesem ritterlichen Verhalten gebracht haben mochte, und gleichzeitig selbst für die Sicherheit der Feentochter zu sorgen, schien ihm, mit Asher zusammenzuarbeiten. Solange er in ihrer Nähe blieb, konnte er seinen Gegner beobachten. Zog er sich jetzt zurück, würde der andere womöglich mit ihr irgendwohin verschwinden, wo Julen ihnen im Notfall nicht rechtzeitig zur Seite stehen konnte. Er hatte keine Wahl. Da seine Tarnung ohnehin schon aufgeflogen war, entschied er sich, zu tun, was der Vampir wollte. Aber vorher wollte er wissen, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. »Wer bist du?«, platzte es wenig diplomatisch aus ihm heraus.
Estelle sah die beiden irritiert an. »Ihr kennt euch nicht?« Asher warf ihr einen warnenden Blick zu und seine Stimme erklang in ihrem Kopf: Mein Bruder möchte nicht, dass unsere Verwandtschaft bekannt wird.
Warum? Schämte sich der Vampirkrieger für seinen bibliophilen Bruder? Sie warf ihm einen Blick zu. Zugegeben, wie ein gefährlicher Kämpfer sah er wirklich nicht aus. Also gut, wie du willst, aber ich mag diese Spielchen nicht.
Julen sah von einem zum anderen, er hatte von ihrer lautlosen Konversation nichts mitbekommen. »Was ist nun?«
»Ich bin Asher. Wie du weißt, ist Manon eine gute Freundin von mir, daher kenne ich Estelle. Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann seid ihr beide auf der Suche nach einem Buch. Ich bin Bibliothekar, vielleicht kann ich helfen.«
Dieses Angebot konnte Julen nicht ablehnen. Jemand, der sich auf Bücher verstand, war genau das, was er brauchte, und dass der Vampir nicht auf seine Abstammung hingewiesen hatte, legte den Verdacht nahe, dass die weit weniger pompös war, als er sich gab. Julen vermutete, dass es sich bei Asher um Estelles eifersüchtigen Beschützer handelte, und wenn dies stimmte, dann hatte er es mit einem weit mächtigeren Vampir zu tun, als dessen unauffällige Erscheinung und Aura vermuten ließen. Er würde auf der Hut sein.
Mehr als das Eingeständnis der bereits bekannten Verbindung zu Manon hatte er sich schon erhofft, aber der Name »Asher« ließ sich in den Annalen der Vampire sicherlich finden. Julen war überzeugt, bald hinter dessen Geheimnis zu kommen, doch die Nachrichten, die ihn heute über seinen Spitzel erreicht hatten, waren beunruhigend und er konnte jede Hilfe gebrauchen, um schnell hinter das Geheimnis der Entführungen zu kommen.
Er entschloss sich zu kooperieren. »Ich habe Grund zur Annahme, dass die Entführer ebenfalls Interesse an dem Grimoire haben.« Die Hinweise aus dem Büro des Detektivs waren deutlich gewesen.
»Und du hoffst nun, den Entführern mithilfe des Buches auf die Spur zu kommen.« Asher sah ihn an, als denke er darüber nach. »Das könnte funktionieren.«
Julen ignorierte seinen Kommentar. »Es gibt Gerüchte, dass die Streuner sich zusammentun. Sie scheinen zu glauben, der Rat plant eine groß angelegte Säuberungskampagne.«
»Was für eine Wortwahl, wir sind doch keine Faschisten!«
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