Die Sternseherin
vertrödelt zu haben, anstatt nach Hinweisen auf die Entführer zu suchen. Hinweise, die sich unter Umständen sogar in seiner Tasche befanden. Er beschleunigte seine Schritte. Im Hotel angekommen, ging er trotz bester Vorsätze direkt zu Estelles Suite. Jede Nacht, die sie darin verbrachte, kostete ihn ein Vermögen. Dieses Detail hatte ihn bei der Buchung nicht interessiert und war ihm auch jetzt gleichgültig. Aber dass die Räume dunkel und verwaist dalagen, registrierte er sehr wohl, und es brauchte nur einen kurzen Moment der Konzentration, bis die schwere Zimmertür, wie von Geisterhand bewegt, aufsprang. Lieblicher Feenduft hing in der Luft, doch auf Ashers Anwesenheit gab es keinen Hinweis. Er stieß einen leisen Fluch aus. Dieser Buchfreak war gut. Hätte Julen nicht mit eigenen Augen gesehen, dass der Vampir noch vor wenigen Stunden hier gestanden hatte, er hätte sich täuschen lassen. Er nahm sich vor, so schnell wie möglich seinen Hüter aufzusuchen, um mehr über den Konkurrenten herauszufinden.
In seinem eigenen Zimmer machte er sich nicht einmal die Mühe, das Licht einzuschalten. Er warf den Mantel aufs Bett und klappte seinen Laptop auf. Leise surrend fuhr die Festplatte hoch. Anders als die Werwölfe, die inzwischen nicht nur führend in der Computerindustrie waren, sondern, wie es hieß, über exzellente Datenbanken verfügten, lehnte das Gros der Vampire Technik ab. Die wenigen, die sich auskannten, votierten regelmäßig gegen die Digitalisierung ihrer Bibliotheken und gegen andere Neuerungen. Ein wenig mehr Fortschrittlichkeit hätte seine Arbeit als Vengador erheblich erleichtern können und, was wirklich sehr wünschenswert gewesen wäre, seine Besuche beim Hüter möglicherweise auf ein Minimum reduziert. Die Vorstellung, mit magischen Wesen per E-Mail zu kommunizieren, mochte auf den ersten Blick absurd klingen, aber wenn man es genauer betrachtete, dann war es keine Überraschung, dass einige jüngere Vampire sogar eine geheime Internetplattform ins Leben gerufen hatten. Sich den Entwicklungen der Sterblichen anzupassen, um so unerkannt unter ihnen leben zu können, zählte zu den wichtigsten Überlebensstrategien ihrer Art. Große Hoffnung, dort etwas zu finden, hegte er nicht. Zu seiner Überraschung entdeckte er ein neues Dechiffrier-Tool. Julen lud es sofort herunter, fischte den Stick aus der Tasche und versuchte sein Glück. Mehrere Stunden und zwei Beutel B-Negativ später lehnte er sich zurück und starrte ebenso müde wie frustriert auf den Bildschirm. Noch immer ratterten Zahlen und Zeichen in einem Fenster, aber der Inhalt des Dokuments blieb im Verborgenen.
Plötzlich klopfte es. Die Anzeige seines Computers informierte ihn darüber, dass es wenige Minuten nach zwölf war und draußen die Sonne bei trockenen sieben Grad Celsius strahlte. Wer auch immer ihn um diese Zeit besuchte, war ungeduldig, denn die Tür vibrierte beim zweiten Klopfen.
»Ich weiß, dass du dort drinnen bist.«
Zweifelsfrei Asher, Julen erkannte die Stimme sofort. Er war mit drei Schritten an der Tür und riss sie auf. »Was willst du?«
»Guten Tag! Da du dir die Mühe gemacht hast, mir zu öffnen, kannst du mich genauso gut auch hereinlassen.« Ashers altertümlicher Akzent war weit deutlicher als am Abend zuvor, und Julen fragte sich, wo er die letzten Jahrzehnte verbracht haben mochte. Der Vampir schlenderte an ihm vorbei, ließ seinen Blick über die im Zimmer herrschende Unordnung schweifen und sah schließlich auf den Bildschirm. »Diese Datei hast du in hundert Jahren noch nicht entschlüsselt«, sagte er beiläufig, schob ein zerknülltes Hemd beiseite und ließ sich in den einzigen Sessel fallen.
Vollständig schien er den Kontakt zur Welt der Sterblichen nicht abgebrochen zu haben, sonst gäbe er sich jetzt sicherlich nicht so selbstgefällig. Erstaunt registrierte Julen die Veränderung, die mit dem Bibliothekar vor sich gegangen war. Die Zurückhaltung eines langweiligen Bücherwurms hatte ihm weit besser gefallen.
»Du hältst dich wohl für einen Fachmann?« Er wurde langsam ärgerlich und der Feenduft, der Asher umwehte, trug nicht dazu bei, seine Stimmung aufzuhellen.
»Keineswegs. Aber du solltest vielleicht einmal dies hier probieren!« Er zog einen Zettel aus der Tasche. Julen zuckte mit einer Schulter. Ein Versuch würde nicht schaden, so oder so konnte er nur gewinnen. Er stoppte den Entschlüsselungsversuch und hantierte mit der Maus. Ein Fenster erschien und verlangte ein
Weitere Kostenlose Bücher