Die Sternseherin
gut verzichten. Julen, der jetzt wieder entspannt wirkte, warf ihr einen verständnisvollen Blick zu.
Im Kamin der winzigen Schlafkammer, in die Asher sie begleitete, brannte ein Feuer. Sie wünschte sich, er würde irgendetwas Zärtliches sagen. Selbst jetzt, da sie alleine waren, wirkte er distanziert, und sie wagte es nicht, ihn auf die gemeinsam verbrachte Nacht anzusprechen. Er drehte sich abrupt um. Die Tür fiel bereits hinter ihm ins Schloss, als sie seine Stimme warm wie der Sommerwind in ihrem Kopf hörte: »Gute Nacht, Sternchen!«
Sie schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Am nächsten Tag brachen sie gleich nach Sonnenuntergang auf und Estelle fand nicht zum ersten Mal, dass die Vampire um ihre Lichtempfindlichkeit nicht zu beneiden waren. Sie selbst fühlte sich einigermaßen erholt, aber ihre Begleiter wirkten zerknautscht. Sie dachte über das Cottage nach und fragte sich, wie viele Schlafzimmer es haben mochte. Nach ihrer Ankunft hatte sie nicht damit gerechnet, ein eigenes Zimmer zu bekommen, dies sogar ein wenig gehofft. Wie schön wäre es gewesen, in Ashers Armen aufzuwachen. »Wo habt ihr geschlafen?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Frag nicht!« Julen erinnerte sich nur widerwillig an den unbequemen Platz auf dem schlecht gepolsterten Sofa und sehnte sich fast nach seinem Nachtlager im Sarg. Er warf einen misstrauischen Blick zu Asher hinüber. Der Antiquar schien guter Dinge zu sein, obwohl er in seinem Sessel kaum besser geruht haben dürfte. Nachdem Estelle ins Bett gegangen war, hatte er Julen nach seinen Plänen für das weitere Vorgehen befragt und ihm dabei sogar ein Glas Blut angeboten, das in einem verborgenen Kühlschrank lagerte. Julen wusste, dass es Zufluchtsorte gab, die ausschließlich Ratsmitgliedern oder Vengadoren zur Verfügung standen. Dank eines besonderen Zaubers nahmen Sterbliche sie nicht wahr, und nur die wenigsten Vampire kannten ihre genaue Lage oder konnten sich gar Zutritt verschaffen. Dieses Haus war ein solches Refugium und der Antiquar nicht zum ersten Mal hier, was Julen verblüffte. Einer direkten Frage wich Asher aus. Stattdessen schlug er vor, zuerst den Besitzer der Telefonnummer ausfindig zu machen, bevor sie weitere Schritte planten.
Estelle ließ sich von der Einsilbigkeit ihrer Begleiter nicht irritieren. Sie genoss die kurze Fahrt in die Stadt und das geliehene Luxusfahrzeug inklusive der exzellenten Musikanlage, die Asher mehr als einen gequälten Seufzer entlockte. Der Vampir bewegte sich während der Fahrt so gut wie gar nicht und verbarg seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Estelle bekam allmählich den Verdacht, dass er nicht nur unter Flugangst litt, sondern auch das Autofahren nicht besonders schätzte. Ihm schienen sämtliche modernen Verkehrsmittel ein Gräuel zu sein. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrem Fahrstil, der, zugegeben, ziemlich rasant war.
Nachdem sie das Auto abgestellt hatten, folgten sie Asher. Er bewegte sich wie selbstverständlich durch die schmalen Gassen. Julen jedoch sah sich aufmerksam um, als wittere er überall Gefahr. Schnell erreichten sie ein Pub, über dessen Eingang das typische Holzschild baumelte, auf dem ein mächtiger Adler prangte. Von innen fiel Licht durch die mit Blei gefassten Scheiben. Es strahlte britische Gemütlichkeit aus und war rustikal eingerichtet, mit Holzbalken und zahllosen Bildern an den Wänden, und wirkte, als befände es sich schon ewig an diesem Ort.
»Was tun wir hier?« Estelle fand es merkwürdig in Begleitung zweier Vampire in ein Pub zu gehen, als sei dies die normalste Sache der Welt.
»Ich dachte mir, du würdest gerne etwas essen!«
Sie seufzte, er hatte recht. Der Duft von Roastbeef ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, die Sandwiches waren zwar lecker gewesen, aber nicht besonders nahrhaft. Schon wollte sie sich an einen freien Tisch setzen, da hob Asher plötzlich seinen Kopf und ging zielstrebig auf eine halb verborgene Nische zu. Irritiert hastete sie hinter ihm her. In der Ecke saß ein Mann, den sie wegen der spärlichen Beleuchtung erst bemerkte, als sie dicht vor ihm stand. Trotz des großen Lärms, der hier herrschte, arbeitete er konzentriert an einem Laptop neuer Generation. Ohne aufzusehen, trank er einen Schluck aus seinem Tonbecher, tippte weiter und sagte plötzlich: »Der Bibliothekar erweist mir die Ehre seines Besuches.« Damit klappte er den Computer zu und sah auf. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus
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