Die Sternseherin
gefolgt!«
»Wem?«
Leise berichtete sie von ihren Beobachtungen und Asher stieß einen Fluch aus, bei dem Estelle froh war, dass sie nicht einmal die Hälfte seiner Worte verstand. Ehe sie begriff, was mit ihr geschah, hatte er sie in die Zwischenwelt gezogen und in einem sehr vertrauten Raum abgesetzt. »Hier bist du sicher.« Während er das sagte, lösten sich bereits seine Konturen auf und er verschwand.
»Estelle? Was machst du in meinem Schlafzimmer?«, erklang die Stimme ihrer Zwillingsschwester Selena schlaftrunken unter voluminösen Kissen.
»Ich habe keine Ahnung. Asher hat mich offenbar gerade bei dir abgegeben!« Während sie diese Worte sprach, spürte sie Wut in sich aufsteigen. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein?
»Asher – meinst du Kierans Bruder?« Selena setzte sich auf. »Du bist ihm begegnet?«
Estelle glaubte, einen freudigen Unterton zu hören, und ließ sich auf die Bettkante fallen. »Hast du mir etwas zu erzählen?«
»Gar nichts.« Die Stimme ihrer Schwester hatte einen verdächtig harmlosen Ton angenommen. »Egal. Wie schön, dass du hier bist!«
»Wie geht es dir, kleine Schwester?«
»Klein?« Selena stieg aus dem Bett und zog sich ihren Morgenmantel an. »Genau genommen bin ich einen halben Zentimeter größer als du.« Sie umarmte Estelle. »Glucke! Gut geht es mir und es wäre noch besser, wenn ich wüsste, was du so treibst.«
»Selena, ich hab keine Ahnung, was mit mir passiert.« Estelle erzählte mit leiser Stimme von der Begegnung mit den beiden Vampiren und ihrer gemeinsame Suche. »Warum kann ich nicht einfach einem netten, normalen Mann begegnen?«
»Weil er dich bald schrecklich langweilen würde.« Selena klang überzeugt. »Du warst schon immer die abenteuerlustigere von uns beiden. Darf ich dich daran erinnern, wie du damals diesen Einbrecher nur mit einem Besen vertrieben hast?«
Estelle winkte ab. »Der war doch schon längst verschwunden, als ich in den Laden kam!«
»Wenn du mich fragst, Julen mag ein netter Kerl sein, aber für dich ist er nichts. Asher dagegen ...« In diesem Moment hob sie erstaunt ihre Hand zum Mund und beobachtete fasziniert, wie die Luft hinter Estelle vibrierte, als habe sie mit der Nennung seines Namens den Vampir herbeizitiert.
»Guten Abend!«
»Asher! Schön, dich wiederzusehen«, sagte sie schüchtern und wurde prompt mit einem Lächeln belohnt.
»Hallo Selena, bitte entschuldige uns. Wir müssen gehen!« Sekunden später starrte sie schlaftrunken ins Leere und ihre Schwester fand sich in ihrem Mietwagen in einer kaum beleuchteten Seitenstraße von Cambridge wieder.
»Sag nichts!« Ashers Lippen schmeckten nach Versuchung und geheimen Versprechen, als er sie plötzlich küsste. Er hatte lange mit sich gerungen und schließlich eingesehen, dass er ihr nicht widerstehen konnte, solange sie gemeinsam in diese Suche nach den Entführern und des Grimoires verstrickt waren und sie ihm so nahe war. Es wäre zweifellos das Vernünftigste gewesen, Estelle bei seinem Bruder in Sicherheit zu bringen. Doch dies gegen ihren Willen durchzusetzen, brachte er einfach nicht übers Herz. Es war die schlimmste Folter gewesen, die er jemals erlebt hatte, während des Fluges und später im Auto so dicht neben ihr sitzen zu müssen, ohne sie berühren zu dürfen. Auch als sie später schlief, hatte er kein Auge zugetan, weil jede Bewegung, die sie nebenan zwischen dem glatten Leinen machte, ihn aufs Neue erregte. Julen beobachtete er mit Argusaugen, obwohl dieser klugerweise während der Reise alles vermieden hatte, was Ashers Misstrauen erwecken würde. Sein Interesse an Estelle schien tatsächlich besonders ihrer magischen Begabung zu gelten. Womöglich war er doch zu voreilig gewesen und Julens Versuche, sie zu küssen, gehörten lediglich zur Strategie des jungen Vengadors, die Feentochter für seine Zwecke zu gewinnen. Nicht, dass ihn dies sympathischer machte.
Er vertiefte seinen Kuss und genoss ihre hingebungsvolle Reaktion darauf. Doch dann löste er sich behutsam von ihr. Erst der Zwischenfall in der Bibliothek und nun drohte er, ihren Reizen in einem Mietwagen zu erliegen. Wie weit war es mit ihm gekommen, dass er in Estelles Nähe keine Spur von Verstand mehr zu besitzen schien?
Sie hatte Mühe, ihre Gedanken zu sortieren. Asher sah aus, als kämpfe er mit seinen Dämonen, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie seine Stimmungen jederzeit wahrnahm, während Kieran ein immerwährendes Geheimnis und eine Bedrohung
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