Die Sternseherin
Vorstellungskraft.«
Ein frostiger Hauch legte sich auf Estelles Haut und sank langsam hinab, als bestünde ihr Knochenmark plötzlich aus Eis. »Hör auf«, verlangte sie. »Julen, ich verstehe das Konzept!«
»Ich hab nichts getan. Das sind die Geister!«
»Oder ein besonders wirksamer Abwehrzauber.« Asher griff nach Estelles Hand und sofort verließ sie alle Furcht, als besäße sie durch seine Berührung eine Schutzschicht. »Tretet ein!« Er führte sie in einen spartanisch eingerichteten Raum und entzündete beiläufig mit einem Fingerschnippen ein Feuer in dem hohen Kamin. Im Schein der Flammen sah sie ihren Atem in kleinen Wölkchen aufsteigen und der Geruch alter Möbel reizte sie zum Niesen. Vorsichtig setzte sie sich auf die vordere Kante eines Stuhls, der unter ihrem Gewicht ächzte.
Julen sah sich skeptisch um. »Vielleicht hätten wir doch nach London fahren sollen. Besonders komfortabel sieht die Hütte nicht aus.«
Estelle aber stellte erstaunt fest, dass sie sich hier wohler fühlte als in all dem Luxus zuvor. Ein wenig wärmer hätte es allerdings schon sein können. »Mir gefällt es. Aber ich bezweifle, dass sich hier irgendwo ein Kühlschrank mit euren Spezialitäten befindet.« Unwillkürlich legte sie die Finger in ihren Nacken. Beide Vampire folgten der Bewegung mit hungrigem Blick. »Gebt es zu, ihr habt auch noch etwas anderes Wichtiges vergessen.« Estelle lachte nervös. »Oder hat etwa einer von euch daran gedacht, dass wir Sterblichen regelmäßig essen?«
Asher wirkte konzentriert. Langsam machte er einen Schritt auf sie zu, dann einen zweiten, den Blick starr auf sie gerichtet und Estelles Herzschlag fiel in einen unregelmäßigen Trab. Julens Adamsapfel hüpfte, als würde er krampfhaft schlucken.
Plötzlich erstarrte er und ließ sich rücklings auf das Sofa fallen. Seine Stimme klang heiser. »Estelle, lass das!«
Asher blinzelte, als erwache er aus einer Trance, und wich in eine entfernte Ecke des Raumes zurück. Seine Lippen bewegten sich wie bei einem Fluch, vielleicht war es aber auch ein Stoßgebet, das er flüsterte. Und plötzlich entspannte sich die Atmosphäre, er griff in seine Tasche und zog eine Papiertüte hervor. »Wie könnte ich vergessen, was du bist, wo doch dein Magen schon seit Stunden knurrt.«
Estelle bemühte sich, so zu tun, als hätte sie die angespannte Stimmung nicht bemerkt. »Dafür war also der Stopp an der Tankstelle. Und ich dachte schon, du hättest selbst Appetit bekommen.« Sie wickelte die zerquetschten Sandwiches aus.
»Im Keller gibt es Wein, ich bin gleich zurück.« Damit war Asher fort.
»Dieses ständige Verschwinden und Auftauchen macht mich ganz nervös«, beklagte sie sich bei Julen, der, nun ebenfalls um Normalität bemüht, ein Glas mit dem Zipfel seines Hemds auswischte, als ginge es um sein Leben. »Hast du nicht gesagt, es sei nicht gut, allzu häufig durch die Zwischenwelt zu reisen?«
Er stellte das Glas behutsam ab und griff nach dem nächsten. »Das stimmt. Jeder Eintritt in diese Dimension birgt eine gewisse Gefahr und schwächt uns. Aber was du gesehen oder besser nicht gesehen hast, liegt daran, dass wir uns ein wenig schneller bewegen können, als mit dem menschlichen Auge wahrzunehmen ist.«
»Du meinst, Asher ist gerade in den Keller gerannt, um Wein zu holen, und ich habe ihn einfach nicht gesehen?«
»Genau!« Julen saß so plötzlich auf ihrer Sessellehne, dass ihr beinahe das Sandwich aus der Hand gefallen wäre.
»Mach das nie wieder! Du hast mich erschreckt.«
Julen beugte sich ganz dicht zu ihr herab. »Dann solltest du künftig besser nicht mit dem Feuer spielen!« Ihre Haut kribbelte dort, wo sein Atem sie gestreift hatte. Genauso schnell, wie er gekommen war, stand er auch schon wieder im äußersten Winkel des Raums, als wäre er derjenige, der sich fürchten sollte.
Asher ließ sich Zeit, bis er endlich mit einer Flasche zurückkehrte, aber das Warten hatte sich gelohnt. Der Wein war dunkel und schwer, und Estelle ertappte sich bei der Überlegung, ob menschliches Blut ähnlich schmeckte, für einen Vampir zumindest. Als sie die leere Sandwichtüte schließlich zusammenknüllte, zitterte sie leicht.
Asher legte seine Hand auf ihre Schulter und, so absurd es klang, schenkte er ihr damit Sicherheit. »Wir bleiben heute Nacht hier. Ich zeige dir, wo du schlafen kannst. Die letzten Tage waren anstrengend für dich.« Estelle war zwar wirklich müde, aber auf seinen väterlichen Tonfall konnte sie
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