Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
stellenweise schon braun. Herbst in Prag findet Vanda zum Kotzen. Überhaupt Herbst, egal in welcher Stadt.
Sie geht durch die Straßen und zieht gierig die kalte Luft ein. Vinohradská, Slezská, Korunní. Im Park unter dem Wasserwerk beschließt sie, Carlos nicht anzurufen. Sie hält es aus. Bleibt sauber. Ihr steht ein großer Tag bevor. Vor allem ein großer Abend. Ihr Konzert. Vorher gibt es allerdings den Soundcheck. Dort wird sie Harry sehen. Hoffentlich verkraftet sie das. Hoffentlich schafft sie es, ihn zur Hölle zu schicken.
Vorher muss sie aber nach Hause. Mit ihrer Mutter reden. Und davor hat sie noch den Friseurtermin. Und isst mit ihrem Vater beim Thai zu Mittag. Vielleicht kann sie ihm etwas Geld abquatschen. Und falls er nicht mitmacht, knallt sie ihm alles vor den Latz. Tacheles reden nennt man das. Sie ist kein kleines Mädchen mehr.
DIE PLATTENBAUTEN
S tewardessen, denkt Hana, könnten spirituelle Séancen leiten oder erotische Filme sprechen. Der sanfte und gleichzeitig unbeteiligte Tonfall würde sicherlich viele Männer erregen. Wenn nicht gar alle Männer.
Das Flugzeug fliegt über Prag. Hana blickt auf das, was die Scharen von Touristen in die Stadt lockt. Den Hradschin. Die Karlsbrücke. Den Wenzelsplatz. Den jüdischen Friedhof. Dazwischen den Altstädterring mit astronomischer Uhr und Marktständen mit Bier und riesigen Marionetten von Schwejk und Kafka.
Die Innenstadt verschwindet, nun liegen die Plattenbauten unter ihnen, die wie ein Armreif um die Stadt liegen. Hana würde dort nie leben wollen, aber sie mag sie trotzdem lieber als die Sehenswürdigkeiten aus dem Reiseführer. In den Plattenbauten wird wenigstens noch gelebt.
Das Flugzeug nähert sich dem Boden. Eine Stewardess läuft durch den Gang und prüft, ob alle angeschnallt sind. Hana kommt sich auf einmal wie festgeschnürt vor. Eingeschlossen. Das passiert ihr jedes Mal, wenn sie nach Prag zurückkehrt. Aber schon einen Moment später fühlt sie sich wieder stark, die Verstimmung hat nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Ein Fingerschnalzen lang. Nicht länger als ein Pfiff auf einem Grashalm. La petite mort.
Die Landung.
Alle Flughäfen in Europa gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Einst war Europas Verbindungsglied das Christentum, später Mozart oder Fellini. Heute fühlen sich die Europäer durch Flugzeuge, Beamte, Supermärkte, Fahrräder, iPods und Turnschuhmarken miteinander verbunden. Wobei Letzteres vielleicht nicht einmal stimmt. Womöglich stellen die Turnschuhe den letzten Hauch von Widerstand gegen die Eurofizierung dar. Das Letzte, was die Menschen in Europa noch voneinander unterscheidet. Hana war schon früher aufgefallen, dass jede Stadt eine eigene Marke trägt. Berlin Adidas. Milano Puma. London Umbro. Madrid Nike. Prag Converse. Zumindest in diesem Sommer ist es so gewesen.
Hana hat schon lange keine Turnschuhe mehr getragen. In den letzten Jahren machte sie gerne auf unauffällige und teure Eleganz. Vielleicht kauft sie sich aber heute welche. Oder sie wühlt alte Kartons durch. Dort müsste doch noch ein abgetragenes Paar liegen. Sie kann sich nur schwer von alten Sachen trennen, ihr Freund lacht sie deswegen manchmal aus. Wenn es so weitergeht, sagt er, wacht Hana eines Tages nicht in einer Wohnung, sondern in einer Lagerstätte mit durchgewetzten Mänteln, löchrigen T-Shirts und Schuhen mit schief abgelaufenen Absätzen auf. An der Tür würde man dann das Schild Heilsarmee befestigen.
Warum nicht, denkt Hana. Aber wenn sie sich neue Turnschuhe kauft, dann bestimmt keine Converse. Sie ist doch keine lächerliche Punkerin oder eine dumme Schülerin, die eines Tages gerne Punkerin werden möchte. Sie würde sich eher für Adidas entscheiden. Wegen Thomas? Nein, das nicht. Sie findet sie einfach schöner. Außerdem hat sie ein Jahr in Berlin studiert.
Im Flugzeug ertönt leise klassische Musik. Ein synthetischer Dvořák. Die Passagiere holen ihre Mobiltelefone hervor und schalten sie wieder ein.
Ursprünglich hatte sie vor, nach der Landung kurz im Büro vorbeizuschauen und zu berichten, wie es in Lissabon gelaufen ist und welche Konturen der Vertrag zum Schutz des gemeinsamen europäischen Kulturerbes inzwischen angenommen hat, aber sie verwirft den Plan. Es hat sich sowieso nichts weiterbewegt. Es wurde wieder nur geredet. Wie vor einem halben Jahr in Dublin. Oder im letzten Sommer in Rom. Sie wird nicht ins Büro gehen. Sie hat Anspruch auf einen freien Tag und den wird sie sich
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