Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
A Brasileira, in dem Pessoa häufig Gast gewesen war. Vor dem Café hatte man ihm ein Denkmal errichtet, der Dichter aus Bronze saß nonchalant an einem Cafétisch, an dem Kaugummis klebten. Speichelbenetzte Nachrichten ins Jenseits. Hana und Thomas bestellten pastéis de Belém, die süße Vanillecreme floss ihnen das Kinn herunter.
Hana kam es vor, als würden alle Portugiesen ständig lächeln, nicht wie in Prag, wo man nur dann lächelt, wenn man etwas braucht oder jemanden anbaggern will.
Im Marinemuseum haben sie sich alte Seekarten angesehen, nach denen Fernão de Magalhães Südamerika und John Franklin Nordamerika umsegelt haben. Das Museum zeigte die beiden Seefahrer wie zwei aus Plastik gestanzte Zwillinge nebeneinander, obwohl in Wahrheit einige Jahrhunderte zwischen ihnen lagen. Beide standen klein, nach vorne gebeugt und fest entschlossen da, bereit, die Welt zu entdecken.
Es gab dort außerdem Tintenfische, Seesterne und glänzende weiße Haie, bei denen eine Gruppe japanischer Touristen gleich für mehrere Stunden hängen geblieben war. Zu den Exponaten gehörte auch der Bathyscaphe Trieste, mit dem in grauer Vorzeit jemand bis auf den Meeresgrund hinabgestiegen war, um festzustellen, dass es dort außer absoluter Dunkelheit auch Leben gab.
Später liefen Hana und Thomas durch die schmalen und holprigen Gassen der Altstadt, über ihnen flatterte frisch gewaschene Wäsche an den Wäscheleinen und aus den Fenstern hörte man die Fernseher lärmen. Manchmal berührten sich ihre Hände flüchtig. Bei Anbruch der Dämmerung erreichten sie eine Straßenbahnhaltestelle.
Sie stiegen in den winzig gelben Wagen Nr. 28 ein. Der Fahrer klingelte, fuhr polternd los und die Straßenbahn kämpfte sich wankend durch die Straßen wie ein Schiff durch die Stromschnellen. In atemberaubender Geschwindigkeit sauste die Tram hinunter, um gleich darauf von einer steilen Straßenwelle hinaufgetrieben zu werden. Hana hatte das Gefühl, sie könnten jeden Moment entgleisen und in einem der nebenstehenden Häuser in der Küche landen. Sie hielt sich an Thomas fest. An einer Haltestelle stieg ein Kollege ein, der es wohl bei der Konferenz über europäische Identität und Kultur auch nicht mehr ausgehalten hatte. Er winkte ihnen zu. Hana war froh, dass er sich nicht zu ihnen setzen wollte.
Sie stiegen auf einem großen Platz mit Palmen aus. Vor den Kneipen saßen Menschen an Tischen und tranken Bier. Hana und Thomas suchten sich auf einer Terrasse eine Bank, von der aus man über die Stadt blicken konnte. Frischer Wind vom Atlantik blies ihnen ins Gesicht. Dreißig Kilometer weiter gibt es ein Felsenriff, sagte Thomas, an dem Europa zu Ende ist. Dahinter fängt der Ozean an. Er sei schon mal da gewesen. Das nächste Mal könnten sie vielleicht gemeinsam hin. Klar, das machen sie. Das nächste Mal bleiben sie eine ganze Woche hier. Vielleicht.
Er legte ihr einen Arm um die Schulter. Hana gefiel das. Er streichelte ihren Hals, ihre Arme. Sie küssten sich nicht. Noch nicht. Die Küsse kamen später, erst nachdem sie in einem kleinen Bistro mit blau gekachelten Wänden zu Abend gegessen hatten, in einem Bistro, in dem es leicht nach Toilette roch und wo der Fernseher grölte, dort haben sie den schweren Hauswein getrunken und die ersten Küsse getauscht, während die Aufmerksamkeit der Bedienung voll dem Fußball auf dem Fernsehbildschirm galt. Benfica Lissabon gegen wen auch immer.
Jetzt sitzt Hana auf der Letná-Höhe und sieht auf Prag herunter, über das sich die träge Nachmittagssonne ergießt. Eine angenehme Faulheit breitet sich in Hana aus. Inlineskater mit Kopfhörern rasen an ihr vorbei. Sie nippt an ihrer Weinschorle und liest weiter: Schatten, so leicht und sanft.
Eine junge Frau mit gepiercter Nase bittet Hana um eine Zigarette. Sie schenkt ihr die ganze Schachtel. Auch wenn sie alles in ihrem Leben auf den Kopf stellen will, das Rauchen wird sie sich wohl nicht noch einmal angewöhnen. Da fängt sie lieber an, mehr Wein zu trinken.
Hana überlegt, ob der Müll aus den portugiesischen Flugzeugen über Prag ausgekippt wird oder zurück nach Lissabon geht. Oder unauffällig über den Alpen entsorgt wird. Vielleicht hätte sie Thomas’ Visitenkarte nicht wegwerfen sollen. Dann fällt ihr ein, dass seine Telefonnummer in ihrem Handy gespeichert sein müsste, er hat ihr doch heute früh eine SMS geschickt.
Jetzt will sie ihr Telefon nicht einschalten. Aber sie ruft ihn vielleicht an. Irgendwann. Vielleicht
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