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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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beobachtete das Schauspiel, doch die Kluft zwischen dem, was er sah, und dem, was er empfand, war mittlerweile so groß, dass er es kaum registrierte.
    Sie hatten sich so weit von dem Beiboot entfernt, dass Franks Schreie im Rauschen des Windes verklungen waren, doch Johnny wusste, dass er seine Stimme für den Rest seines Lebens hören würde. Seine Hände hatten so heftig gezittert, dass er Mühe gehabt hatte, die Segel festzuhalten. Auch jetzt wurde sein Körper von einem heftigen Beben geschüttelt, ganz egal, wie viele Pullover er sich überzog. Er war immer noch fassungslos, wie Annie einfach über Bord springen und zu Frank schwimmen konnte. Immerhin war die Falle doch ihre Idee gewesen. Hatte sie ihn etwa bewusst manipuliert? Sosehr er sich auch bemühte, bekam er das Bild, wie sie zum Beiboot geschwommen war, nicht mehr aus dem Kopf.
    Die Nacht war sehr schnell hereingebrochen und hatte jegliches Licht geschluckt, womit das Beiboot endgültig seinem Schicksal überlassen gewesen war. Ihre Chancen, es zu schaffen, waren nicht allzu groß. Womöglich entdeckte sie jemand, sie fanden irgendetwas im Wasser, was sie als Paddel benutzen konnten, oder aber sie gerieten in eine günstige Strömung. Es sei denn, das Boot sank vorher, was der wahrscheinlichste Ausgang war. Und falls sie wider Erwarten doch überleben sollten, würde Frank sie wohl kaum finden, solange sie Kurs gen Westen hielten, dessen war er sich ziemlich sicher, da die Beziehungen zwischen den Griechen und den Türken auf Eis lagen und keinerlei Kommunikation zwischen den Ländern stattfand.
    Er nahm Kurs nach Nordwesten, in Richtung des Ionischen Meeres, nur fort von hier und allem, was hinter ihnen lag. Wann immer er einen Blick in die Richtung riskierte, aus der sie gekommen waren, erwartete er beinahe, Franks Schatten hinter ihnen aufragen zu sehen, doch mit Ausnahme der gezackten, silbernen Linie des Monds auf dem Wasser war weit und breit nichts zu erkennen.
    Clem hatte kein Wort mehr gesagt. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und weigerte sich, ihn anzusehen. Stattdessen saß sie am ganzen Leib zitternd da und starrte auf die Stelle hinaus, wo sie das Beiboot das letzte Mal gesehen hatten. Sie hatte beobachtet, wie es immer kleiner geworden war, hatte Franks leiser werdenden Schreien gelauscht und Annies schweigende Schwimmzüge beobachtet, bis alle anderen Geräusche im Rauschen des Windes untergegangen waren. Von Zeit zu Zeit setzte sie sich auf, griff nach dem Fernglas und suchte die Wasseroberfläche ab, doch außer der endlosen See und den silbergrauen Delfinen war nichts zu sehen.
    »Wo ist Daddy?«
    Sie fuhren beide zusammen. Smudge, das ahnungslose Opfer der Tragödie, erschien kurz vor Tagesanbruch auf der obersten Stufe der Kombüsentreppe. Bekleidet nur mit ihrer Captain-Hook-Jacke, mit einer Decke um die Schultern und Gilla in der Hand, in dessen zerschrammtem Auge sich das Mondlicht spiegelte. Fassungslos mussten sie sich eingestehen, dass sie das kleine Mädchen während der vergangenen Stunden völlig vergessen hatten.
    Und nun stand sie da – ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, nur mit den dunklen Augen und Haaren ihres Vaters, als sei es ihre Aufgabe, Johnny und Clem an die Ereignisse erinnern, falls sie sie jemals vergessen sollten. Annie hatte ihr zuvor ein Schlafmittel verabreicht, sodass sie von alldem nichts mitbekommen hatte, doch nun war sie wach, rieb sich die Augen und sah Johnny und Clem an, ohne zu ahnen, dass sie an einem entscheidenden Scheidepunkt ihres jungen Lebens stand – von diesem Moment an würde es sich zwischen davor und danach teilen.
    »Komm herüber und setz dich«, sagte Johnny.
    Wieder rieb sie sich die Augen, schlurfte durch das Cockpit und sah sich um. »Wo ist meine Mami?«, fragte sie und wandte sich Johnny zu. »Und mein Daddy?«
    Clem sah ihn an. Über dieses Thema hatten sie bisher nicht gesprochen. Sie hatten über gar nichts gesprochen. Sie hatten einander noch nicht einmal in die Augen gesehen. Clem nahm Annies Strickjacke vom Cockpitsitz und schlang sie Smudge um die Schultern. »Hier, zieh die an«, sagte sie. »Hier draußen ist es eiskalt.«
    Smudge stand da, während Clem sie wieder in die Decke hüllte, dann kniete sie auf den Steuerbordsitz und spähte über die Reling.
    »Sie haben das Beiboot genommen«, erklärte Smudge.
    »Stimmt«, bestätigte Johnny. »Sie sind ans Ufer gerudert.«
    Smudge blickte aufs Meer hinaus. »Ohne mich?«, fragte sie verwirrt. »Wann

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