Die stillen Wasser des Todes - Roman
sie nicht mit ihr spielen sollen. Ist dir das nicht aufgefallen?«
»Nun, ich habe mir schon gedacht, dass sie ein bisschen … gehemmt wirkten –«
»Wie konnte sie nur? Sie werden schließlich bald Cousins und Cousinen sein, Herrgott noch mal.« Beim zornigen Klang von Gemmas Stimme zog Constance die kleine Stirn in Falten. Gemma holte tief Luft, um sich zu beruhigen, ehe sie die Hand ausstreckte und mit dem Finger über die Wange des Babys strich. »Entschuldige, Schätzchen.« Constance hatte die vornehme englische Blässe ihrer Mutter und die strahlenden blauen Augen von Jack geerbt, und nach ihrem blonden Flaum zu schließen, würde sie auch die gleiche Haarfarbe bekommen wie ihr Vater.
Doch mit ihren karamellfarbenen Löckchen und ihrem hellbraunen Teint war Charlotte mindestens ebenso hübsch, und die Vorstellung, dass irgendjemand allein wegen ihrer Hautfarbe anderer Meinung sein oder sie anders behandeln könnte, machte Gemma rasend vor Wut. »Ich habe gehört, wie Cyn über Charlotte geredet hat – mit einem Ausdruck, den man unmöglich wiederholen kann«, verriet sie. »Ich könnte sie umbringen.«
»Gemma, du musst doch damit gerechnet haben –«
» O ja, wir waren durchaus vorgewarnt. Die Frau vom Jugendamt war sehr gründlich. ›Es kommt manchmal vor, dass Kinder gemischter Herkunft von der Verwandtschaft der Adoptiveltern nicht akzeptiert werden‹«, zitierte Gemma. »Aber ich habe wohl zu viel We Are The World -Videos gesehen«, fügte sie seufzend hinzu. Während ihre Schwester einfach nur unverschämt war, hatten ihre Eltern sich dem Kind gegenüber sehr reserviert verhalten, was Gemma tief getroffen hatte. »Charlotte hat ohnehin schon genug durchgemacht.«
Sie und Duncan hatten das kleine Mädchen im August in Pflege genommen, nachdem sie gemeinsam wegen des Verschwindens ihrer Eltern ermittelt hatten.
»Wie geht es ihr denn eigentlich?«, fragte Winnie, während sie Constance, die allmählich unruhig wurde, auf dem Knie schaukelte. »Dieses Wochenende war so hektisch, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, dich danach zu fragen oder dir zu sagen, wie entzückend sie ist.«
»Ja«, erwiderte Gemma, und ihre Stimme wurde weich. »Das ist sie, nicht wahr?« Ihre Arme fühlten sich plötzlich leer an ohne das Baby, und in die zärtliche Zuneigung, die sie empfand, wenn sie Winnie mit ihrer Tochter im Arm beobachtete, mischte sich ein klein wenig Neid. »Aber –« Sie zögerte, während sie auf das fröhliche Kindergeschrei lauschte, das aus dem Garten kam. Charlottes aufgeregtes Rufen hob sich unverkennbar von den Stimmen der Jungs ab. Vielleicht, dachte Gemma, reagierte sie tatsächlich zu heftig und maß ganz normalen Eingewöhnungsproblemen zu viel Bedeutung bei.
»Aber?«, fragte Winnie nach und legte sich Constance über die Schulter.
»Sie schläft schlecht«, gestand Gemma. »Ich glaube, sie hat Alpträume, und wenn sie aufwacht, ist sie oft untröstlich. Sie –« Gemma hielt inne; ihre Stimme drohte plötzlich zu versagen, und sie musste sich zusammenreißen, ehe sie weitersprach. »Sie ruft nach ihrer Mama und ihrem Papa. Und dann fühle ich mich immer so – so –« Sie zuckte mit den Achseln.
»Hilflos. Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber sie hängt schon sehr an dir. Das habe ich gesehen.«
»Manchmal ein bisschen zu sehr, fürchte ich. Sie klammert regelrecht.«
Sie war mit Duncan übereingekommen, dass sie so lange abwechselnd unbezahlten Elternurlaub nehmen würden, bis sie das Gefühl hatten, dass Charlotte sich in ihrer neuen Umgebung sicher genug fühlte, um in eine Tagesstätte gehen zu können.
Gemma hatte bereitwillig die erste »Schicht« übernommen, doch in der kommenden Woche sollte sie auf ihren Posten als Detective Inspector im Revier Notting Hill zurückkehren, und sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie es kaum erwarten konnte, wieder zu arbeiten und in der Gesellschaft von Erwachsenen zu sein. Sie fragte sich, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, wieder arbeiten zu gehen. »Ich hoffe bloß, dass Duncan allein zurechtkommt.«
»Nun trau deinem Mann doch mal was zu«, meinte Winnie grinsend und deutete mit dem Kopf zum Garten, wo Duncan und Jack mit den Kindern in den Pfützen herumtrampelten. »Er macht sich doch gar nicht schlecht. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr er Charlotte liebt. Und wenn ihr beide diese Verpflichtung übernehmen wollt, dann muss sie zu ihm eine genauso enge Bindung entwickeln wie zu dir.« Sie
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