Die stillen Wasser des Todes - Roman
obwohl er im Empfang mit der entzückenden Lily Meyberg sprach und anschließend noch im Speisesaal, in den Bars und in den Mannschaftsräumen nachsah.
Nachdem er zum Empfang zurückgegangen war und sich bei Lily bedankt hatte, beschloss er spontan, durch die Glastür auf den kleinen Balkon hinauszutreten, von dem der Blick über den Fluss und die Anlagen des Clubs ging. Die Wiesen lagen verlassen; nur die Betonpfeiler, auf denen im kommenden Juni die Zuschauertribünen ruhen würden, ragten aus der einförmigen grünen Fläche empor.
Kincaid war noch nie bei der Henley Royal Regatta gewesen, doch er hatte Fotos und Videos gesehen. Vor seinem geistigen Auge sah er die Scharen von Zuschauern, die Tribünen und Zelte bevölkerten, die Sonne, die auf dem Wasser glitzerte, und die vielen Ruderer mit ihren Booten, wie sie vom Start ablegten, eine einzige Symphonie aus Farbe und Bewegung.
Wäre Rebecca auch dabei gewesen? Hätte sie dann unter Beweis gestellt, dass sie das Zeug zur Olympiateilnehmerin hatte?
Er hörte die Tür hinter sich knarren, und als er sich umdrehte, erblickte er Milo Jachym.
»Lily sagte, dass Sie nach Freddie suchen«, begann Milo. »Ist ihm etwas passiert?«
»Er hat gestern Abend seine Wohnung verlassen und ist nicht mehr zurückgekommen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Er hat mich gestern Abend angerufen, aber ich war gerade im Kraftraum. Er hat keine Nachricht hinterlassen, und als ich zurückrief, ist er nicht rangegangen.« Milo runzelte die Stirn. »Er hat nicht den Wagen genommen?«
»Nein.«
»Dann wird er nicht zu seinen Eltern gefahren sein.« Milo schüttelte den Kopf und blickte wie Kincaid über die Grünfläche hinweg. »Ich hätte nie gedacht, dass Beccas Tod ihn so schwer treffen würde. Ich hatte immer geglaubt, dass Freddie zu den Glücklichen gehört, denen im Leben alles mühelos gelingt. Er hatte alles – gutes Aussehen, Beziehungen, Talent. Aber in den letzten Jahren ist sein Charme ein bisschen abgeblättert. Es schien, als müsste er sich Mühe geben, damit ihm die Dinge nicht entgleiten.«
Kincaid betrachtete den Mann, der neben ihm stand, und fragte sich, ob Milo Jachym auf Freddie eifersüchtig gewesen war. Er hatte das Gefühl, dass Milo nichts in den Schoß gefallen war – dieser Mann hatte jede Chance, die sich ihm bot, mit beiden Händen packen und mit der kompromisslosen Entschlossenheit eines Steuermanns festhalten müssen. Und es war gewiss denkbar, dass seine Beziehung zu Rebecca Meredith komplizierter gewesen war als zwischen Trainer und Teammitgliedern üblich. »Sie kannten Freddie und Becca schon lange?«, sagte er.
»Seit sie beide noch an der Uni waren. Sie hatten so viel Potenzial, alle beide. Aber irgendwo war von Anfang an der Wurm drin.« Milo klang unendlich traurig.
Dann richtete er sich mit einem Achselzucken auf, und sofort war seine gewohnte forsche Art wieder da. »So, jetzt muss ich aber die Crew für die zweite Trainingseinheit aufs Wasser bringen. Wenn Sie Freddie finden, sagen Sie ihm, er soll mich anrufen.« Er begann die Treppe zum Bootsplatz hinunterzugehen, dann drehte er sich noch einmal zu Kincaid um. »Haben Sie es mal im Cottage versucht? Das ist der einzige Ort, der für Freddie als letzte Zuflucht in Frage käme.«
Kincaid überlegte, ob er zu seinem Wagen zurückgehen sollte, den er auf dem Parkplatz an der Greys Road nahe dem Polizeirevier abgestellt hatte. Doch er befürchtete, dass ihn die SOKO -Zentrale gleich wieder in ihren Strudel ziehen würde, und er hatte immer noch das Gefühl, dass es das Klügste wäre, sich so lange unsichtbar zu machen, bis er wusste, was sie gegen Craig in der Hand hatten.
Er würde zu Fuß nach Remenham gehen. Er war die Strecke schließlich schon einmal mit dem Auto gefahren und hatte gesehen, dass es nicht weit war.
Bald jedoch musste er feststellen, dass es zwar ein idyllisches Sträßchen war, die Strecke jedoch wesentlich weiter war, als er sie in Erinnerung hatte. Als er endlich an Rebecca Meredith’ Cottage ankam, war ihm warm, obwohl er nur eine leichte Lederjacke trug, und er hätte ein Königreich für seine Sportschuhe gegeben.
Bei Tageslicht sah das Häuschen nicht ganz so gepflegt aus; es war deutlich zu erkennen, dass die Routinearbeiten vernachlässigt worden waren. Die Hecke musste dringend geschnitten werden, der Rasen war nicht gemäht, und um das Vordach herum blätterte die Farbe ab.
Das Gartentor war nur angelehnt, und als Kincaid
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