Die stillen Wasser des Todes - Roman
angetan worden war. Übelkeit stieg in ihm auf.
»Was ist?«, fragte Freddie. »Sie schauen, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Kincaid erwiderte seinen Blick, und in diesem Augenblick kam er zu einem Entschluss. Freddie Atterton musste erfahren, was mit seiner Exfrau passiert war.
Aber noch nicht gleich. Denn mit dem Wissen würde die Wut kommen, und wenn Freddie auf Angus Craig losginge, hätte Kincaid keine Möglichkeit, ihn vor den Konsequenzen zu bewahren.
20
Wir tragen alle voller Stolz den Wettkampfdress des Oxford University Boat Club. Heute verdienen wir uns die höchste sportliche Ehre unserer Universität, das Oxford Blue. Nur wenige Sportarten kommen dafür in Frage, und ein Blue kann nur in einem Wettbewerb gegen Cambridge verliehen werden … Um ein Blue im Rudern zu bekommen, muss man die Fulham Wall passieren, ungefähr zwei Minuten nach dem Start. Würde man vor diesem Punkt untergehen, wäre es doppelt grausam. (David Livingston)
David und James Livingston, Blood Over Water
Das Churchill Arms war genauso mit Krimskrams überladen, wie Melody es beschrieben hatte. Außerdem war es gerammelt voll, und die stickige, warme Luft roch nach Kohl und gebratenem Fleisch.
Gemma war früh dran und beschloss deshalb, schon einmal hineinzugehen und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Drinnen trat sie ein wenig zur Seite, um die Gäste vorbeizulassen, die mit ihren Gläsern vor die Tür gingen. Sie hatte sich leger gekleidet, mit Rock und Stiefeln, und gab sich große Mühe, einen lässigen Eindruck zu machen. Dabei war sie ganz froh, dass sie noch nie in die Verlegenheit gekommen war, verdeckt ermitteln zu müssen.
Es war ein herrlicher, klarer Tag, und nachdem sie Betty Howard gebeten hatte, ein paar Stunden auf Charlotte und Toby aufzupassen, war Gemma die kurze Strecke von Notting Hill zum Churchill Arms zu Fuß gegangen. Sie hatte einen Blick in die Campden Street geworfen, wo Jenny Hart gewohnt hatte, und wie Melody fand sie den Gedanken erschreckend, dass der Mörder so nah an ihrem Revier zugeschlagen hatte. Die Polizeiwache Kensington war wohl zuerst alarmiert worden, sonst wäre der Fall auf Gemmas Schreibtisch gelandet. Nicht, dass sie mehr erreicht hätte als das Team vom Dezernat Schwerverbrechen, dem er schließlich zugewiesen worden war. Die Kollegen hatten mit dem, was ihnen zur Verfügung stand, gute Arbeit geleistet.
Immer wieder musste sie an Melody denken – jung, attraktiv, alleinstehend – ein perfektes Angriffsziel für Angus Craig. Vielleicht war es nur gut für Melody, dass Craig offenbar neuerdings das Risiko suchte und sich auf Polizeibeamtinnen der höheren Dienstgrade konzentrierte.
Melody war jetzt natürlich vorgewarnt, aber zu viele andere potenzielle Opfer waren es nicht. Sie mussten dieses Ungeheuer endgültig aus dem Verkehr ziehen, und zwar so schnell wie möglich.
Gemma sah den Kellnerinnen zu, die eifrig zwischen Theke, Küche und den vollbesetzten Tischen in den verschiedenen Gasträumen hin und her eilten. Sie fragte sich, welches der Mädchen wohl ihre Zeugin war.
»Chefin«, sagte Melody dicht an ihrem Ohr, und Gemma fuhr zusammen. »Du siehst immer noch aus wie eine Polizistin«, fügte Melody mit einem flüchtigen, nervösen Lächeln hinzu.
»Das Kompliment kann ich erwidern. Und du hast mich fast zu Tode erschreckt. Hast du das Foto?«
»Natürlich.« Melody klopfte auf ihre Handtasche, die so geräumig war, dass sie darin mühelos einige Churchill-Souvenirs aus dem Pub hätte mitgehen lassen können. »Das ist die Geschäftsführerin«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf eine groß gewachsene junge Frau hinter dem Tresen. »Theresa.«
»Und unsere Zeugin?«, fragte Gemma.
»Das werden wir gleich herausfinden. Und ich stelle dich nur als meine Kollegin vor, okay? Keine Namen. Nur für den Fall – na, denken wir besser gar nicht darüber nach.«
Gemma hielt ihre Freundin zurück, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte. »Melody, bist du dir auch sicher, dass du das durchziehen willst? Ich meine, du könntest dir damit deine Karriere ruinieren. Wenn nicht Schlimmeres.«
»Wenn sie ihn nicht identifizieren kann, haben wir nichts zu verlieren. Dann war es eben eine Spur in einem Sapphire-Fall, die in eine Sackgasse führte. Wenn sie ihn identifiziert, werde ich das tun, was getan werden muss. Wie du auch.« Melody klang vollkommen überzeugt.
»Okay«, sagte Gemma und folgte ihr zum Tresen. Sie hielt sich im Hintergrund, während
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