Die Stimme des Blutes
geworfen. Der andere, ein zottiger Kleiner, ging dicht hinter ihm her und warf alle paar Schritte einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück.
Plötzlich begann es wieder zu regnen. Einer der Männer fluchte leise.
Roland folgte ihnen so leise wie möglich, aber im nassen Gras quietschten seine Schuhe bei jedem Schritt. Der Regen wurde stärker, wurde zum Wolkenbruch, der die Bäume und Hügel verschwinden ließ. Dieses verdammte Land - eben schien die Sonne noch, und im nächsten Augenblick wurde es am hellen Nachmittag fast stockdunkel.
Die Männer legten langsam, aber sicher ihren Weg zurück. Ihr Ziel war eine Höhle, ein Einschnitt in den Felsen des Hügels. Roland hielt sich zurück und sah, wie sie hineingingen. Drinnen wurde eine Laterne angezündet, und gedämpftes Licht fiel nach draußen. Er schlich sich so nahe heran, daß er sie belauschen konnte.
»... verdammter Regen ... glaw, glaw ... ewig Regen.«
»Willst du sie dir gleich vornehmen, Myrddin?«
»Nein, das Mädchen ist pitschnaß und halbtot. Laß sie da in der Ecke und leg ihr was über!«
Also hatten sie schon entdeckt, daß sie kein Knabe war. Hatten sie hart zugeschlagen? Roland gestand es sich ungern ein, aber sein erster Gedanke galt ihrem Befinden und nicht dem Geld, das er einbüßen würde, wenn er sie nicht lebend und unberührt zu ihrem Onkel zurückbrachte.
Nein, sagte er sich, so geht das nicht. Sie war nichts als eine Ware, die er in gutem Zustand abzuliefern hatte.
Es war noch ziemlich früh. Wenn die Männer auf die Jagd gingen, würden sie sich trennen. Der Hüne - er hieß Myrddin - sah nicht so aus, als würde er aufs Abendessen verzichten. Geduldig wartete Roland unter einem überhängenden glatten Felsen, der ihm Schutz vor dem nicht endenwollenden grauen Regen bot.
Es dauerte nicht lange, und Myrddin kam aus der Höhle, fluchte über den Regen und setzte sich dann in Trab. Pfeil und Bogen hatte er unter den rechten Arm geklemmt. Langsam schlich Roland weiter, bis er vor dem Eingang der Höhle stand. Er beugte sich vor und erblickte den anderen Mann, den Kleinen mit den krummen Beinen. Er kniete neben Daria und schaute sie an. Dann hob er, ohne den Blick von ihr zu wenden, die schmutzige Decke hoch.
Plötzlich trat Roland das Bild des Grafen Clare vor Augen, wie er mit der Hand unter Darias Hemd griff. Und nun betrachtete wieder ein Mann sie mit ebenso gierigen Blicken. Das war mehr, als Roland ertragen konnte. Er duckte sich ganz tief und lief in dieser Haltung in die Höhle hinein, so leise wie eine nächtlich fliegende Fledermaus. Der Mann hörte ihn nicht. Das Feuer, das die beiden angefacht hatten, war niedergebrannt. Der Rauch drang Roland in die Kehle. Er mußte husten.
Als der Mann herumwirbelte, sprang Roland ihn an. Zum Glück war er größer und stärker. Seine Finger schlossen sich in tödlichem Griff um die Kehle des Mannes. Der stieß gurgelnde Laute aus, sein Gesicht wurde dunkel, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Immer noch drückte ihm Roland die Kehle zu. Die Wut hatte ihn übermannt. Dann hörte er Daria flüstern: »Nein, Roland, Ihr dürft ihn nicht töten. Nein!«
Schweratmend ließ er den Mann los. »Seid Ihr heil geblieben?«
»Ja. Sie haben mich überrumpelt, als ich gerade zurückkommen wollte. Der Große hat mir die Faust an den Kopf geschlagen. Ja, ich hab's überlebt. Aber jetzt müssen wir weg, bevor er zurückkommt.«
Doch Roland schüttelte den Kopf. Er wollte den Mann töten.
Daria spürte, was er vorhatte, und sagte rasch: »Ich habe Angst.«
»Ich bin ja da, es kann Euch nichts passieren. Dieser Kerl wollte Euch vergewaltigen und Euch dann seinem riesigen Freund überlassen, damit der sich an Euch vergnügen kann. Er ist ein Vogelfreier, ein Räuber. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, daß er uns verfolgt und Euch wieder einzufangen versucht. Ihr geht jetzt in die Nähe des Höhleneingangs und haltet dort für mich Wache. Aber dreht Euch nicht um, verstanden?«
Sie gehorchte. Es dauerte nicht lange, und Roland kam zu ihr, aber nur, um hinauszugehen. Vorher wiederholte er seine Mahnung: »Dreht Euch nicht um! Er gehörte zum Abschaum der Menschheit.«
Draußen wartete er geduckt unter dem Überhang, bis er einen Wadenkrampf bekam. Er schüttelte die Beine aus, verfluchte den unaufhörlichen kalten Regen und wartete weiter.
Bald hörte er leichte Schritte. Myrddin kam zurück. Er murmelte unzufrieden vor sich hin: »Kein Wild. Nichts als Regen, dauernd
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