Die Stimme des Wirbelwinds
Marseille, wo wir bei meiner Tante wohnten. Selbst da wären wir fast noch verhungert.« Steward sah sie an. »Hast du noch Xanadus?«
»In meiner Hemdtasche. Ich hab' gehört, daß manche Menschen sich gegenseitig aufgefressen haben. Stimmt das?«
Steward machte ein finsteres Gesicht. »Ich kann's mir vorstellen«, sagte er. »Aber nichts davon kam bis da unten, wo ich lebte. Die Banden hielten die Dinge am Laufen.«
»Die Canards kamen als Retter?«
»Ja.« Steward stand auf und ging zu dem Stuhl, wo Ardala ihr Hemd hingelegt hatte. Er fand die letzte Xanadu und suchte den Aschenbecher. »Die Jugendbanden regierten die Stadt, mehr oder weniger«, sagte er. »Jedenfalls die Altstadt. Sie hielten die Strom- und Wasserversorgung für die Leute aufrecht, die nicht in Ökodromen wohnten. Aber die meisten von ihnen hatten alle möglichen komischen französischen Vorstellungen von Ehre und Machtgebieten und Ideologie – herrje, die Hälfte der Bandenkämpfe waren nicht mal Kämpfe, da haben sich nur zwei Kinderhorden politische Parolen ins Gesicht geschrien. Oder sie haben Manifeste über das öffentliche Datennetz rausgegeben. Ihre Loyalität zu der Société Bijoux oder der Neuen Verjüngungsbewegung oder dem Genetischen Behaviourismus verkündet. Die Canards haben keine solche Loyalität verlangt. Sie wollten nur überleben und reich werden und ein bißchen Spaß auf Kosten der Kids haben, die alles so ernst nahmen.«
Er fand den Aschenbecher und brachte ihn mit zum Bett. Er zündete die Zigarette an und lehnte sich in die Kissen zurück.
»Bist du reich geworden?« fragte Ardala.
Er legte das Feuerzeug auf den Nachttisch. »Ich war ein braver Junge und hab' alles meiner Mutter gegeben. Sie hat sich den Weg in ein Ökodrom erkauft, ungefähr zur selben Zeit, als ich mich freiwillig zur KL gemeldet habe.«
»Also gewissermaßen reich.«
Steward inhalierte und schloß die Augen. »Die Canards wollten Mittelsmänner sein. Sie glaubten, da läge die dicke Kohle. Sie versuchten darüber Bescheid zu wissen, wer Manöver in bestimmte Richtungen unternahm, was die Polikorps vorhatten, wo man gewisse Waren finden konnte. Sie fungierten als Makler und bekamen Prozente. Sie haben sich nie mit einer der anderen Banden verbündet. Und wir haben die anderen auch sabotiert, bloß so zum Spaß. Haben ulkige absurde Manifeste mit den Signaturen von anderen Banden rausgebracht und solche Sachen.«
»Was ist aus ihnen geworden?«
»Die meisten sind umgekommen. Es gab einen Bandenkrieg. Da die Canards in der Mitte standen, waren sie direkt im Kreuzfeuer. Sie schlossen nie irgendwelche Freundschaften, deshalb waren sie nichts anderes als stationäre Ziele. Ich hab' genommen, was ich mir verdient hatte, bin abgehauen und zu Kohärentem Licht gegangen.« Er grinste. »Die anderen Canards hätten das gebilligt, glaube ich. Sie haben immer versucht, das Schlaueste zu tun.«
»Und KL hat dich tatsächlich reingelassen.«
»Ich entsprach ihrem Persönlichkeitsprofil.«
»Dem Persönlichkeitsprofil einer aufgelösten Polikorp. Na toll.« Sie klappte das Heft von Guys zu und warf das Magazin vom Bett. »Ich kann mir dich nicht in einer Gang vorstellen. Als du nebenan gewohnt hast, warst du so ein guter Soldat. So ein …« – sie hob die Schultern – »so ein geradliniger Pfeil. Du weißt schon. Alles war immer sauber und an seinem Platz. Du warst immer von den Programmen von Kohärentem Licht für dies und jenes erfüllt. Um die Galaxis sicherer und strahlender zu machen.«
»Nach dem, was ich in Nizza und Marseille gesehen hatte, war Kohärentes Licht sehr plausibel. Jedenfalls kam's mir so vor. Außerdem«, fügte er hinzu, »besteht kein so großer Unterschied zwischen einem guten Soldaten und einem guten Bandenmitglied. Ist in erster Linie eine Sache des Stils.«
»Hm.« Sie griff nach der Zigarette und nahm sie ihm aus den Fingern. »Wie warst du damals?«
»Mager. Angespannt.«
»Du bist immer noch mager und angespannt. Ohne deine Muskeln wärst du bloß ein dünnes Hemd.«
»Angespannt vielleicht. Aber dieser Körper ist ernährt worden. Mein vorheriger Körper war eine ganze Reihe von Jahren am Rande des Hungertodes. Ich stand auf große Sonnenbrillen und Jacken aus Rohseide und leichten Schuhen mit hohem Oberleder und kleinen roten Bommeln an den Seiten. Ich hatte einen hübschen Homecomputer mit dem Neuesten, was es an geklauter Software gab. Ich rauchte Xanadus, und zwar Kette, und fuhr mit einem samtschwarzen
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