Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Klöstern als in Kathedralen anzutreffen ist, rauschten hinter der Gruppe unwirsch Gewänder, und die Hand eines wütenden, rotgesichtigen Priesters riß die anstößigen Verse von der Tür.
    »Weg da, alle miteinander, auf der Stelle!« schrie er und zerriß dabei das Papier in tausend Schnipsel. Die Chorknaben spritzten auseinander. Doch zu spät. Schon hatte jemand die Verse heimlich auf ein Wachstäfelchen kopiert und sie wohlbehalten im bauschigen Ärmel einer Hilfsdiakonsrobe verborgen. Und bereits am Abend wurden sie zu einer skandalös weltlichen Melodie in allen Klerikerschwemmen Londons gesungen. Und dank einer Universalsprache sollten sie innerhalb weniger Wochen durch halb Europa gehen. Als man sich von der Tür verzog, lag auf Bruder Gregorys Gesicht ein entrückter Ausdruck.
    »Wer das auch immer war, seinen Juvenal kennt er«, bemerkte Robert der Schreiber, jener, welcher sich für den Realismus und gegen den Nominalismus stark gemacht hatte.
    »Damit kommt die Hälfte aller Schreiber Londons in Frage«, antwortete Simon der Kopist.
    »Eine häßliche Handschrift hat der Kerl«, bemerkte Bruder Gregory ruhig.
    »Aber ausgezeichnetes Latein, und darin liegt das Paradoxon«, stellte der Deutsche fest.
    »Das Paradoxon läßt sich lösen, wenn man davon ausgeht, daß es jemand mit ausgezeichneten Lateinkenntnissen ist, der Juvenal gut kennt und absichtlich in großen, zittrigen Buchstaben geschrieben hat«, bemerkte Robert der Schreiber und warf dabei Bruder Gregory einen Blick zu.
    »Damit kommt immer noch die Hälfte aller Schreiber Londons in Frage«, erwiderte Simon.
    »Doch gerade die Machart der Verse beweist mir eines«, sagte der Deutsche.
    »Und was genau wäre das?« fragte Bruder Gregory und wölbte eine Augenbraue.
    »Daß die Engländer eine ungestüme Rasse sind und nicht das Zeug zu höherer spiritueller Disziplin haben«, antwortete der Deutsche und verdrehte die Augen gen Himmel, als wollte er seine persönliche, überlegene Eignung zu diesen Dingen zur Schau stellen. Mit dem seidigen, hellblonden Haar, das ihm um die kleine, runde Mönchstonsur wuchs, und der ausnehmenden Blässe seiner Haut hatte der Deutsche sich jene Art von milchigem, durchscheinenden Aussehen zugelegt, das für äußerste Spiritualität zu zeugen schien. An der gedämpften, einstudiert verzückten Stimme war deutlich zu erkennen, daß es sich um einen Sucher handelte, einen wahren Sucher. Bruder Gregory beneidete ihn um seine Blässe und überlegte, ob er es zustandebrächte, es ihm im Aussehen gleichzutun. Schwieriger war da die Stimme, doch vielleicht ergab sich die nach einer wirklich überragenden Vision ganz von selbst.
    »Habt Ihr Visionen gehabt?«
    »Entrückende. Äußerst ekstatische Visionen, welche über mich kommen, wenn ich ganze Nächte hindurch an heiligen Stätten bete, treiben mich weiter, von Schrein zu Schrein. So ist mir beispielsweise in Compostela der Heilige Santiago persönlich erschienen; er trug ein schönes, grünes, juwelenbesetztes Samtgewand und war umflossen von ewigem Licht und Engelsgesang. Die vier Evangelisten habe ich auch gesehen, sie wurden von einer Engelschar auf vier ganz gleichen goldenen Sänften getragen und jeder hielt in der Hand ein Buch des Evangeliums in Flammenschrift.« Als er sah, daß die Gruppe aufmerkte, fuhr der Deutsche fort:
    »Nachdem ich der Milch der Jungfrau Maria, dem Blut des Heiligen Paulus und dem Haar von Maria Magdalena und dem Messer unseres Heilands in der Kathedrale hier meine Ehrerbietung erwiesen habe, gehe ich nun unbeschreiblichen Offenbarungen entgegen, wenn ich meine Pilgerfahrt beim Schrein des Heiligen Thomas in Canterbury beende. Lediglich meine heilige Armut hat mich aufgehalten, und mit einer kleinen zusätzlichen finanziellen Unterstützung könnte ich aufbrechen…«
    Die Schreiber blickten einander an. Dann blickten sie zum Kirchenportal. Gerade war ein Ritter herausgekommen, doch der wirkte nicht vielversprechend. Dann war eine ältere Dame in Gesellschaft ihrer Tochter und Dienerinnen zu sehen, welche sich beim Verlassen der Kathedrale die Augen mit dem Ärmel betupfte. Die Schreiber traten beiseite, damit der Deutsche besser zur Geltung käme. Der lehnte sich auf seinen Pilgerstab und streckte ihr die Hand hin, als sie vorbeiging.
    »Bete für mich, Pilger«, sagte sie mit einem bekümmerten Blick auf sein Gesicht und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, ehe sie weiterging. Der Deutsche prüfte ihre Echtheit, dann tat er

Weitere Kostenlose Bücher