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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Seiten zum Trocknen ausgebreitet hatte, stand er auf und wollte gehen, doch sehr vorsichtig, denn Margarets alberner Hund war unter dem Tisch gefährlich nahe an seinen Füßen eingeschlafen. Eigentlich hatte er es eilig fortzukommen, doch das wollte er nicht zeigen. Er hatte noch etwas am anderen Ende der Stadt zu beschicken und sorgte sich, Margaret könnte ihn in eine nicht banale Unterhaltung verstricken und aufhalten. Margaret hatte beim Sprechen Garn aufgewickelt, und mit einem halbleeren Korb mit Docken auf der einen und einem vollen Garnknäuel auf der anderen Seite wirkte sie hier richtig zuhause. Zu Bruder Gregorys Erleichterung kam eine der Küchenmägde herein, die sich mit Margaret beraten wollte.
    »Mistress Margaret, der Kesselflicker ist an der Hintertür und sagt, daß Ihr nach ihm geschickt habt, er soll die Töpfe heilmachen. Sollen wir ihn hereinlassen?«
    »Welcher Kesselflicker denn – etwa Hudd der Kesselflicker? Dieser schreckliche, alte Schurke? Nach dem habe ich nun wirklich nicht geschickt. Der versucht doch nur, ins Haus zu kommen und uns Ärger zu machen…« Margaret entschuldigte sich hastig und verschwand, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, und Bruder Gregory schlenderte fröhlich auf der Thames Street in Richtung der Kathedrale davon.

    Mittags lief immer eine kleine Menge um die Kathedrale zusammen, die sich dann nach dem letzten Glockenschlag auflöste. Denn die Uhr der Kathedrale, die man erst vor einem Jahrzehnt angebracht hatte, war eine Sehenswürdigkeit für die Besucher der City. Eine leuchtend bemalte Engelsfigur zeigte die Stunden an, und zu Mittag bewirkten Hebel und Gewichte, daß Männergestalten, ›Pauls Kerls‹ geheißen, mit Eisenhämmern zwölfmal die Stunde schlugen. Es war zum Staunen, und wenn es sich dabei nicht um eine Kirche gehandelt hätte, man hätte die Uhr für Ketzerei halten können, eine hoffartige Erfindung des Menschen, mit der man Gottes ureigensten Zeitmesser, die Sonne, ersetzen wollte.
    Inmitten einer sich verlaufenden Menge von Landfrauen, niederen Rittern und Händlern aus der Provinz konnte man eine hochgewachsene Gestalt in lebhafter Diskussion mit einer Gruppe von Schreibern erblicken. Eine gedrungenere Gestalt fuchtelte mit den Armen und rief:
    »Wie könnt Ihr nur einen Mann wie William von Ockham preisen? Er ist ein Nominalist, wohingegen die Realität der Dinge, so wie sie von Gott erschaffen wurde…« Das klang nach einem interessanten Disput und lockte einen deutschen Pilger in muschelbesetztem Umhang an, der sich in barbarisch betontem Latein in die Auseinandersetzung einmischte. Zwei graue Mönche, die keinem stürmisch klingenden Disput widerstehen konnten, wurden ebenso in das Knäuel schnatternder Stimmen hineingezogen. Bruder Gregory lief an diesem Nachmittag zu voller Größe auf. Nachdem er die grauen Mönche mit einem ungemein passenden Bibelzitat abgeschmettert hatte, wollte er sich mit dem Deutschen auf ein aristotelisches Streitgespräch einlassen, doch der gab es ihm Schlag um Schlag zurück. Beim Streiten geriet die kleine Gruppe zwangsläufig in Richtung des nördlichen Querschiffs der Kathedrale.
    Und hier, am Portal dieses Querschiffs, stießen sie auf eine Gruppe, die noch lauter schnatterte als ihre. Ein paar ältere Chorknaben, ein Hilfsdiakon und ein paar Priester der Votivkapellen betrachteten ein Stück Papier, das man inmitten von Ankündigungen leerer Pfründe am Portal angebracht hatte. Man konnte hören, wie sich die Stimmen immer mehr ereiferten.
    »›Quis enim non vicas abundat tristibus obscaenis?‹ Ha! Das ist sehr gut. Erinnert mich an Juvenal.«
    »Glaubt ihr wirklich, die haben das alles getan?«
    »Die Stelle über Simonie ist noch untertrieben, wenn überhaupt, und das ist Beweis für den Rest.« Die Gruppe der Schreiber gesellte sich zur Gruppe vor der Tür, um den Gegenstand des Interesses in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich um eine Reihe witziger, satirischer Verse in Latein, in welchen etliche wirklich staunenswerte Sünden von gewissen Chorherren und Priestern der Kathedrale aufgelistet waren. Merkwürdig an diesem kunstsinnigen Machwerk berührten nur die großen, zittrigen Buchstaben, in denen es geschrieben war. Jetzt entbrannte der Disput noch hitziger: es ging nun um die genauen Abschattierungen der Sünde, welche der jeweiligen Spielart von Unzucht zuzuordnen war. Just als eine äußerst interessante Bemerkung über eine Art Sünde gemacht wurde, welche eher in

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