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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sie in seine Börse, wo sie sich mit einem satten ›klick‹ zu den schon vorhandenen gesellten.
    »Wie schon gesagt, wenn ich am Schrein des Heiligen Thomas bete…«
    »Dann habt Ihr das Mysterium aller Mysterien bislang noch nicht gesehen?« erkundigte sich Bruder Gregory.
    »Ach«, sagte der Pilger, »dazu reicht wohl auch ein ganzes Leben der Suche dieses niederen Erdenwurmes nicht aus, der weniger ist als Staub. Doch jene allerletzte Vision, die Vision, auf die ich mich zurüste, erwartet mich zweifellos am Ende eines Erdenwandels in Kasteiung und Selbstverleugnung. Ich spürte Gottes Schatten – wahrlich, ich spürte ihn über mir, und Er wird diesem demütigsten seiner niederen Diener nicht auf ewig das blendende und herrliche Licht Seiner Gegenwart vorenthalten.«
    »Mir ist offenbart worden, daß wir noch nicht gegessen haben«, sagte Robert und klopfte sich auf den Bauch. Bruder Gregory schnitt ein Gesicht und grinste. Alle außer dem Pilger sahen in ihren Börsen nach, ob sie gemeinsam genug Geld zusammenbrachten.
    »Schreiberkost heute«, verkündete Simon, »das heißt, auf zu Mutter Martha.« Und gemeinsam ging man die Paternoster Row entlang zu der Garküche, wo man mit einem beträchtlichen Preisnachlaß altbackene Fleischkuchen kaufen konnte. Doch erst als es ans Bezahlen ging, bemerkte man, daß sich der Pilger aus dem Staub gemacht hatte.

    Bruder Gregory war ein wenig hohläugig, als er sich beim nächsten Mal bei Margaret ans Schreiben machte. Zwei Tage zuvor, kurz nachdem er die Eitelkeiten anderer so fein säuberlich mit seiner bissigen Feder aufgespießt hatte, war er auf einmal von Reue über seine eigene, daraus resultierende Eitelkeit übermannt worden. Denn als der dritte oder vierte ihm schadenfroh die anonymen Verse vom Portal der Kathedrale zitierte, da hatte er so ein Gefühl, als ob seine schwer erworbene Demut dahinzuschwinden begänne. Außerdem ging es um die Frage, ob man mit Beten die ganze Nacht hindurch, wofür sich der deutsche Pilger so überaus stark gemacht hatte, wirklich soviel erreichen konnte. Und so hatte er sich an jenem Abend wortlos von seinen Freunden getrennt und war hingegangen und hatte die ganze Nacht vor dem Schrein des Heiligen Mellitus gewacht. Doch sehr spät nachts, kurz vor Vigil und just nachdem zwei andere Pilger vor dem Schrein darauf gekommen waren, wie es sich auf Knien in aufrechter Haltung schlafen ließ, da hatte Bruder Gregory im dunklen Schatten über einer einzigen, flackernden Kerze eine unerwartete und außerordentlich unangenehme Erscheinung gehabt. Es war das Gesicht seines Vaters, ganz von dem wirren, weißen Bart umgeben und mit der wohlbekannten Zornesmiene, die er für gewöhnlich bei Bruder Gregorys Anblick aufsetzte. Bruder Gregory hatte beinahe eine Stunde gebraucht, bis er wieder zu einer gebührenden meditativen Verfassung zurückgefunden hatte, ganz zu schweigen von vielen bitterlichen Beschwerden, daß sein Vater wieder einmal seinen Aufenthaltsort herausgefunden hatte.
    »Ihr seid doch nicht etwa hungrig, oder?« unterbrach ihn Margarets besorgte Stimme beim Schreiben. Bruder Gregorys Blässe und die dunklen Ringe unter seinen Augen waren ihrem scharfen Blick nicht entgangen.
    »Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Bruder Gregory und setzte die Feder einen Augenblick ab. Seine asketischen Anfälle behielt er lieber für sich.
    Diese Antwort beunruhigte Margaret noch mehr. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihr die Überzeugung, daß etwas schiefgegangen war. Hoffentlich betrifft das nicht mich, dachte sie bei sich. Doch aus der Sorge wurde nach und nach Verärgerung, welche allemal heilsamer ist, als nämlich Bruder Gregory ihren Stil allein auf der nächsten Seite gleich ein halbes Dutzend Mal scharf rügte.

    Der große Jahrmarkt von Sturbridge glich einem Wunderland. Hier versammeln sich im September drei Wochen lang Kaufleute aus ganz England, ja, sogar aus Orten im Ausland, und bieten seltene und kostbare Schätze von den vier Enden der Erde feil. Und Unterhaltung muß auch sein. Gaukler, Tanzbären, fahrende Sänger und Quacksalber aller Gattungen fallen zahllos wie die Heuschrecken ein. Desgleichen Taschendiebe und Besessene, doch von denen soll hier nicht die Rede sein. Man konnte tagelang umherwandern und die Dinge dort bestaunen, aber wir hatten keine Zeit für Besichtigungen. Mutter Hilde baute sich am Rande des Marktes auf, wo sie unsere angebundenen Esel im Auge behalten und ihre Waren auf

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