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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Schließlich war es sehr staubig.
    An jenem Tag hatte ich allerhand unter Staub und Durst und auch unter Hunger zu leiden, während ich in der heißen Sonne wartete, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und ihm zusah, wie er im Schatten saß, aß und trank und Recht sprach. Das muß ein Traum sein, nicht wahr, daß meine Füße gegen Abend bis auf den Knochen verbrannt sind und man mich schreiend ins Gefängnis trägt, wo ich dann vor meiner Hinrichtung eine Woche lang liege? Sowas stößt anderen Leuten zu, doch nicht mir – nicht einem so netten Menschen wie mir. Wenn das nicht ungerecht ist! Was hat man schon davon, wenn man das Licht sieht und meint, daß man von Gott einen besonderen Auftrag erhalten hat und dann feststellen muß, daß alles, was einen erwartet, nur ein entwürdigender und schmerzhafter Tod ist? Meine Freunde hatten sich offenbar eiligst aus dem Staub gemacht. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Wahrscheinlich hätte ich ebenso gehandelt.
    Aber wer hatte mir das angetan und warum? Ich dachte an die reiche Dame, so fett und aufgeblasen, sah sie im Geist mit ihren Ringen und Ketten funkeln – halt! Hatte ich sie nicht schon einmal gesehen? Wie sie – wie sie mit ihrem Mann dahinschlenderte, der Mann, welcher wie Lewis Small aussah? Das mußte es sein. Es war Lewis Small! So konnte nur einer denken, nur einer handeln. Wenn er wieder geheiratet hatte, mußte er mich für tot gehalten haben. Jetzt war er ein Bigamist und mußte den Beweis dafür loswerden. Wie einfach. Er dachte so vollendet, so erbarmungslos logisch. Nie würde ich ihm entkommen, nie. Wenn ich doch weinen könnte, es hätte mir gutgetan. Aber für mich war alles vorbei, Lewis Small hatte mich gefunden und ein zweites Mal umgebracht. Dieses Mal endgültig. Ich kannte ihn gut: er würde zum Gottesurteil kommen. Er weidete sich doch an den Qualen anderer. Beim ersten Mal habe ich ihn vermutlich etwas um seinen Spaß betrogen, dachte ich bitter bei mir.
    Mittlerweile war das Feuer zu einem Bett aus rotglühenden Kohlen herabgebrannt. Eine Menschenmenge hatte sich zusammengefunden, denn das hier versprach die beste Kurzweil des ganzen Marktes. Ich bekam mit, was so alles geredet wurde.
    »Laßt das Schubsen, ich war zuerst da!«
    »Macht Platz, macht Platz, daß sich die Kinder vorn hinsetzen können.«
    »Jung, was? Diese Hexen werden auch alle Tage jünger – ich sage euch, die Jugend kennt keinen Respekt mehr.«
    »Das will ich meinen – he, Ihr versperrt mir ja die ganze Aussicht.«
    »Wieso heult die denn nicht?«
    »Hexen können doch keine Tränen vergießen, du Dussel.«
    Und so weiter, und so weiter quasselten und schubsten und glotzten sie. An einem anderen Ort hätte ich mich zu Tränen geschämt und geweint. Aber das hier war anders.
    Mir war scheußlich zumute, aber irgendwie auch sehr seltsam. Wie gemein von Gott, dachte ich, mir erst all das Licht zu senden und es dann aufhören zu lassen. Mir war, als hätte er mir einen bösen Streich gespielt. Hatte nicht Hilde gesagt, Gottes herausragende Eigenschaft sei sein Sinn für Ironie? Und doch war das Licht ein wunderbares Gefühl. Ich kam mir dabei immer so viel größer und besser vor, als ich in Wirklichkeit war. Wenn nun für mich alles vorbei sein soll, dann laß mich dem Licht Lebewohl sagen, laß es mich ringsum spüren. Aber man riß mich roh aus meinen Gedanken. Die Kohlen warteten, und der Priester sprenkelte etwas drum herum, so wie sie es immer tun, und betete. Sie nahmen mir die Schuhe und die Bruch ab, dann das Kleid und den Gürtel. Da stand ich nun im Unterhemd und mit herabhängenden Zöpfen.
    Warum muß man sowas immer im Unterhemd machen? Meines war gottseidank hübsch, ein Überbleibsel meiner früheren Ehe. Es war ein loses Hemd aus weißem Leinen, hübsch genäht und um den Hals herum mit weißer Stickerei verziert. Es hatte lange Ärmel und reichte mir, adrett gesäumt, bis auf die Waden. Ich hatte es erst kürzlich gewaschen, so war es sauber – was man nicht von jedem Unterhemd behaupten kann, soweit überhaupt eines vorhanden ist. Bußetun und Um-Vergebung-bitten – für sowas braucht man immer ein anständiges Unterhemd und tüchtige Schwielen unter den Füßen. Ich glaube, derlei ist für die Schaulustigen und als Erniedrigung gedacht. Und wenn es dabei Winter ist und man davon eine Lungenentzündung bekommt, dann sagen sie, Gott hat gerichtet. Früher habe ich mich oft gefragt, ob Gott wohl ein Unterhemd trägt, aber heute weiß

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