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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mich zum Laufen an. Mutter Hilde und die anderen warteten in diskreter Entfernung, sie hatten gepackt und waren reisefertig.
    »Zieh deine Schuhe an, Kind. Aber halte dich nicht mit dem Rest auf. Wir haben deine Sachen, du kannst sie später anziehen. Sag mir, wie kommt es, daß deine Füße nicht verbrannt sind?« Mutter Hilde reichte mir meine Schuhe, welche ich ohne die Bruch anzog.
    »Ich weiß es wirklich nicht. Mir tun die Füße nur von den Steinen weh, über die wir eben gelaufen sind.«
    »Ei, Ihr werdet doch nicht etwa ein absolut gutes Wunder in Zweifel ziehen«, hob Bruder Sebastian an. »Und nun nichts wie weg. Wie ich immer sage –«
    »Leichter Fuß und leichter Sinn!« fielen die anderen ein.
    Als dann gut eine Meile zwischen uns und Sturbridge lag, hielten wir an, damit ich mich ganz anziehen konnte. Ich legte den Umhang ab, denn es war ein warmer Tag. Ich mußte meine Füße vorzeigen, die zwar zerschrammt und nicht eben sauber waren, doch gewißlich ohne Brandwunden, und das munterte alle gewaltig auf.
    »Wir sind geblieben, weil wir sehen wollten, ob wir dich entführen könnten, Margaret«, sagte Hilde. »Aber wir haben gedacht, bestenfalls könnten wir dich aufladen und verstecken, bis deine Füße wieder heil wären. Und schlimmstenfalls – ach, daran wollen wir lieber nicht mehr denken.«
    »Ihr seid meinetwegen geblieben? Nur meinetwegen? Danke, danke, ihr seid wahre Freunde.« Ich setzte mich hin und weinte, weil ich einfach nicht glauben konnte, daß sie so gut an mir gehandelt hatten. Sie wiederum fielen mir um den Hals und sagten, sie hätten viel eher erwartet, daß ich Bruder Sebastian zur Flucht verhelfen müßte und daß ich ihnen bei der nächsten Schwierigkeit alles vergelten könne.
    »Und jetzt«, sagte Bruder Sebastian und schwenkte die Arme, »ein Lied, auf daß wir frohgemut und schnell dahinziehen.« Tom und der Kleine William stimmten an:

»Jungman, sag ich, sei auf der hüt
    daz man dich niht einfangen tut
    dem mane get es wol niht gut
    so eine hex zum wibe hat.

    Bruder Sebastian und die anderen fielen ein:

In einem netze huoc ich drin
    daz ich wol ganz gefangen bin
    in arger not der man mag sin
    so eine hex zum wibe hat.«

    Dann hoben sie mit einem Lied über den Frühling an, das mir besser gefiel. So gingen etliche Meilen fröhlich dahin, bis wir zum Abendessen im Ale-Ausschank eines am Wegesrand gelegenen Dorfes anhielten. Da es dort recht voll war, konnten wir von Glück sagen, daß wir alle zusammen einen Platz in der Ecke fanden. Es war ein Kommen und Gehen von Händlern und Reisenden aus Sturbridge, bei welchem die Geschäfte des Besitzers blühten. Es ließ sich nicht vermeiden, daß wir die hitzige Diskussion am Nachbartisch mit anhören mußten.
    »Und Peter Taylor sagt, er hat gesehen, wie eine Engelsschar ihren Leib an den Armen leibhaftig über die Flammengrube gehoben hat!« – »Ein echtes Wunder! Gott hat ein Zeichen gesetzt!«
    »Ja, daß alle Jungfrauen errettet werden sollen.«
    »Nein, ich glaube es bedeutet, das Ende der Welt steht nahe bevor.«
    »Wieviel Engel habt Ihr gesagt?«
    »Mindestens zwanzig, alle mit goldenen Flügeln. Einer hatte eine metallene Trompete dabei.«
    »Ja, die Trompete bedeutet das Ende der Welt, ganz entschieden.« Ich verkroch mich in der Ecke. Wenn mich nun jemand erkannte? Aber ich hätte mich nicht sorgen müssen.
    »Eine Jungfrau, sagst du?«
    »Ja, eine heilige Jungfrau, die zu Unrecht beschuldigt wurde. Gekleidet war sie in weiße, golddurchwirkte Gewänder mit goldenen Borten. Sie hatte langes, goldenes Haar, das ihr bis auf die Knöchel fiel. Die Engel haben sie geradewegs in den Himmel getragen, denn sie ist spurlos verschwunden.«
    »Du liebe Zeit, das ist ja erstaunlich.«
    »Das Beste daran war, was dem Ankläger zustieß. Teufel stiegen aus der Erde empor, ergriffen ihn und zogen ihn in die Flammengrube, welche sich öffnete und wieder um sie schloß. Sie ließen nichts als einen harten, schwarzen Stein zurück, denn den hatte er statt eines Herzens.«
    »Mmpf«, wisperte Hilde mit vollem Mund. »Als ob ich es nicht immer geahnt hätte – das mit dem Herzen, meine ich.« Bruder Sebastian sah erfreut aus.
    »Alles in allem ein äußerst zufriedenstellendes, erstklassiges Wunder, Margaret, findest du nicht?« freute er sich diebisch und mit leiser Stimme.
    »Schsch!« mahnte ich. Die anderen kicherten hinter der vorgehaltenen Hand. Wir bezahlten und schlüpften still hinaus, denn es war wohl das Klügste,

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