Die Stimme
ich, Gott ist dafür zu groß.
Ich suchte nicht in den Gesichtern der Menge, als man mich zu den Kohlen führte: auf einmal überwältigte mich die Angst. Sie schnitten das Seil an meinen Handgelenken durch, und ein Büttel hielt mich an den Ellenbogen fest, während man ein Stückchen Zunder auf die Kohlen warf, um festzustellen, ob sie heiß genug waren. Kirschrot glühten sie unter einer dünnen, weißen Ascheschicht. Ein Wölkchen puffte hoch, und aus dem Zunder wurde ein glühender Funkenregen, der auch schon wieder verschwunden war. Ein paar Männer mit Spießen standen neben dem Feuer, um mich zurückzustoßen, falls ich zu fliehen versuchte.
Es ist ein eigen Ding um die Angst; sie packt einen wie eine große Faust und schüttelt einen entsetzlich durch, und danach kommt man sich ganz anders vor als normalerweise. Meine Knie wollten mir nicht gehorchen. Sie zitterten und gaben nach, als wären sie aus Sülze. Ich sackte zusammen, und sie mußten mich an den Armen hochziehen. Die Brust kam mir vor, als würde sie von schweren Gewichten zusammengedrückt. Gesicht, Hände und Füße, alles fühlte sich an wie Eis.
»Bitte«, flüsterte ich, »einen Augenblick nur, bis ich stehen kann. Dann gehe ich schon von allein.« Die große Faust der Angst schien ihren Griff ein wenig zu lockern. Ich stand ohne Hilfe da und zitterte am ganzen Leib. Ich konnte nichts hören, nicht einmal ihre Antwort – nur ein brausendes Geräusch in den Ohren.
»Mach, daß alles gleich ist«, dachte ich bei mir, »das Licht und das Feuer.« Ich wandte den Geist von Angst und Schmach ab und versetzte ihn ins Nichts, das still rings um mich vibrierte. Als ich die Augen schloß, spürte ich, wie eine Art summendes Leuchten durch meinen Geist lief, der nicht mehr Ich war, sondern Teil von etwas anderem. Ich, das heißt mein kleines Alltagsich, war nicht mehr da. Dann merkte ich, wie etwas Seltsames mir das Rückgrat hochlief. Etwas Glühendes und Geräuschvolles, gleichsam ein Knistern, das auch Stimme war. Die Stimme war tief, und zur gleichen Zeit drinnen in und draußen um meinen Kopf. Die Stimme aber sagte:
»Es gibt keine Angst. Es gibt kein Feuer. Blick nicht nach unten. Stell dir vor, du trittst auf kühle Steine im Wasser eines Flusses. Richte die Augen auf nichts als das Licht .«
Ich schlug die Augen auf, aber ich konnte nichts sehen. Statt der Schwärze hinter den geschlossenen Lidern erblickte ich nur vibrierende Abstufungen von Licht, die durch mich hindurchzugehen schienen. Ich war ganz blind. Meine Augen starrten glasig, als ich auf die glühenden Kohlen trat und sie wie eine Furt durchquerte. Weil ich nichts sehen konnte, zog auf dem glühenden Kohlebett einen Halbkreis und kam beinahe dort wieder herabgestolpert, wo ich angefangen hatte. Ich konnte mein Herz hören. Es machte ein dumpfes Geräusch, von dem das ganze Universum zu erzittern schien. Jemand zog mich am Arm, mir wurde schwindlig, ich fiel hin.
Und immer noch konnte ich nichts sehen. Ich spürte, wie die Menge sich näherdrängelte.
»Da, sie kann nichts sehen!«
»Sie ist blind.«
»Wir wollen ihre Füße sehen, wir wollen sie sehen.«
Meine Füße! Während ich auf der Erde saß, kehrte mein Augenlicht nach und nach zurück. Eine Gestalt in Schwarz beugte sich über mich, sie hielt Verbandszeug in der Hand. Wieso konnte ich meine Füße nicht spüren? Waren sie weggebrannt? Spürt man das denn nicht?
»Ei, seht euch das an, ihre Füße sind vollkommen heil. Ganz entschieden ein Wunder!« sagte der erstaunte Priester und hielt einen meiner Füße hoch, damit jeder ihn sehen konnte. Was um Himmels willen war geschehen? Ich verspürte immer noch ein leises, sonderbares Knistern im Rückgrat.
»Ein Wunder! Ein Wunder!« murmelte die Menge und wich zurück. Ich konnte sehen, wie sich Leute bekreuzigten.
»Man hat sie zu Unrecht beschuldigt!« rief eine Stimme.
»Aber sie sieht ja auch unschuldig aus. Ich hab's doch gleich gesagt«, meinte eine andere.
»Wo ist der Ankläger?« schrie ein großer Mann. Ich blickte mich um. Am entgegengesetzten Ende des Kohlebetts versuchte ein reichgekleideter Mann in grüner Bruch und dunkel scharlachrotem Gewand verstohlen durch die Menge zu schlüpfen. Ich starrte ihm nach, bemühte mich, ihn zu erkennen. Zwar war es Sommer, aber sein Gewand war dennoch pelzverbrämt, Pelzwerk auch auf seinem Überrock – es mußte Lewis Small sein. Er wandte den Kopf, und ich erblickte das ebenmäßige Gesicht, das mir so lange
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