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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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diese Nacht im Freien und außer Reichweite der Lästerzungen zu verbringen, statt drinnen ein Obdach zu suchen.
    Am nächsten Morgen beriet sich die Gesellschaft. Die Gaukler wollten die Reise fortsetzen, statt geradewegs nach London zu ziehen. Anscheinend hatte Tom Schwierigkeiten mit einem wichtigen Mann in der Londoner Sattlerzunft, wovon er leider zuvor niemandem erzählt hatte. Er mußte abwarten, bis sich die Aufregung gelegt hatte, ehe er in die Stadt zurückkehren konnte, und seiner Meinung nach hatte sich der Kerl noch nicht richtig abgekühlt. Ich blickte auf meine Zehen und sagte:
    »Ich möchte für ein Weilchen einfach nicht mehr auf Märkte gehen. Ihr könnt euch wohl denken, wie mir zumute ist.«
    »Margaret, du bist bald wieder die Alte. Vielleicht solltest du nächstes Mal Hunde dressieren. Verkaufen kannst du jedenfalls nicht«, tröstete mich Master Robert.
    »Still, still, ihr lieben Kinderlein«, hob Bruder Sebastian an. »Ich für meinen Teil fühle mich magnetisch von diesem veritablen Nabel des Universums angezogen, ich meine, wenn man Jerusalem, Paris und Rom nicht mitrechnet – das heißt, von der mächtigen Metropole London. Dort habe ich mein Wintergeschäft, und dem kann es nicht schaden, wenn wir früh aufbrechen. Und so schlage ich vor, daß wir diese entzückende Reisegruppe auflösen und daß wir vier unseres Weges nach London ziehen, wo ihr zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu uns stoßen mögt, wenn es euch beliebt.«
    »Auflösen? Das ist wirklich zu arg. Wir haben mit Peter so gute Geschäfte gemacht – das heißt, mit dem Weissagen –, was für ein Jammer, schon so bald damit aufzuhören.«
    »Ein großer Jammer, und uns wird eure treffliche Gesellschaft fehlen. Doch in London sind die Straßen mit Gold gepflastert. Es lockt, versteht ihr.«
    »Aber wie sollen wir Euch finden?« fragte Parvus Willielmus.
    »Fragt im Hause von Sebastian dem Apotheker in Walbrook nach dem Verbleib von Bruder Malachi – ihr seid stets willkommen.«
    »Bruder Malachi, mein lieber Sebastian, wer ist denn das?« wollte Hilde wissen.
    »Ei, ich natürlich. Das ist mein Londoner Name. Den Sebastian habe ich mir für die Wanderschaft ausgeborgt. Er hat mir zwar nicht die Erlaubnis erteilt, doch das hätte er gewißlich, wenn er davon gewußt hätte.«
    »O, lieber Sebastian – ich meine Malachi –, was seid Ihr doch für ein vielseitiger Mann«, murmelte Hilde zärtlich.
    »Ich lebe das Leben eines Kosmopoliten, meine Liebe, und es wird mir eine Freude sein, selbiges mit dir zu teilen.«
    »Ihr laßt mich doch nicht zurück?« fragte ich ängstlich.
    »Aber, Margaret«, sagte er schlicht, »würden wir etwa Peter verlassen? Oder Moll? Du gehörst zum Haushalt, solange du möchtest.« Ich war furchtbar erleichtert. Ohne Freunde würde ich auf der Stelle Hungers sterben. Ich war einfach nicht kundig genug, um mich allein durchzuschlagen.
    Und so schieden wir unter vielen Umarmungen und Tränen von unseren Reisegenossen und versprachen, uns eines Tages wieder zu treffen. Sie wandten das Gesicht gen Westen und wir gen London. Wir waren voller Hoffnung.
    »Wie ist denn London, lieber Malachi? Ich hab' meiner Lebtage nicht in einer Stadt gewohnt«, sagte Mutter Hilde.
    »Es erstreckt sich, soweit das Auge reicht«, sagte Bruder Malachi und breitete dabei die Arme aus. »Jede Annehmlichkeit, jede Bequemlichkeit, die man sich nur vorstellen kann, ist dort zu finden, und das mal sieben. Innerhalb der Stadtmauer gibt es beinahe zweihundert Kirchen und über dreißigtausend Seelen – das heißt, wenn die kürzliche Pestilenz ihre Zahl nicht betrüblich verringert hat. Ihr könnt euch das brausende Geläut der Glocken nicht vorstellen – nicht etwa nur eine einzige erbärmliche Kirchenglocke, nein, hundert über hundert, deren Klang wie Wellen über die Stadt hinwegrauscht! Ausländer reisen rastlos und unaufhörlich heran, um exotische Gewürze und Luxusartikel an ihre Tür zu bringen. Eine ständige Folge von Lustbarkeiten – Paraden, Spiele und Festlichkeiten der erlesensten Art – verzücken und entzücken ihre Bewohner. All das, liebe Hilde, lege ich dir zu Füßen.« Und er verneigte sich, als ob er ihr ein Geschenk zu Füßen legte. Sie lachte. Ich mochte es, wenn Hilde lachte. Sie hat alles Glück verdient, dessen sie habhaft werden kann, dachte ich.

    Margaret warf Bruder Gregory von ihrem Platz auf den Kissen in der Fensternische einen schiefen Blick zu; ihre Hände lagen im Schoß, ihre

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