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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Arbeit ins Land gegangen, jetzt war es Winter, und es machte keinen Spaß, ohne Geld durch die Straßen zu laufen. Ich wollte dem Gestank im Haus so oft wie nur möglich entkommen und strolchte also ganz allein und ungeachtet der Gefahr im Freien herum. Zunächst machte mir das Herumwandern Freude. Da gab es am Strand prächtige Paläste zu sehen, dazu das Kommen und Gehen der hohen Herren zu Pferde, dahinter ihre uniformierten Gefolgsleute. Ich ging dann wohl zum Galley-Kai hinunter und sah mir die einlaufenden Schiffe aus fremden Ländern an. Einige ragten hoch auf, waren leuchtend bemalt und hatten Segel, und man konnte die Seeleute in fremden Zungen singen hören. Bei anderen handelte es sich um Galeeren, manche mit zwei, drei Reihen Ruderblättern übereinander, Schiffe, die sacht vor sich hindümpelten, während Ballen mit Kostbarkeiten aus dem Orient entladen wurden.
    Wer am Flußufer entlangwandelt, kann erleben, wie der Fisch an der Billingsgate-Werft angelandet wird – doch wenn man nichts kauft, schimpfen sie hinter einem her. Bei schlechtem Wetter ging ich wohl in die große Kathedrale. Mitten im Kirchenschiff von St. Paul's findet sich alles nur Mögliche: Arbeiter bieten ihre Dienste an, Leute verkaufen unter dem Umhang Sachen zweifelhaften Ursprungs, und Jungen spielen Ball. Doch wenn man als Frau allein dort hinkommt, denken alle, daß man auf ein Stelldichein aus ist, deswegen konnte ich dort nie lange verweilen. Es macht keinen großen Spaß, herumzulaufen und sich bei heftigem Wind in einen alten Mantel zu wickeln und zu wissen, daß man, wenn ein Straßenverkäufer ›heiße Pasteten‹ ausruft, keinen Penny dafür hat, geschweige denn für andere Dinge. Dann fragt man sich, was aus einem wird und ob man überhaupt noch auf der Welt sein darf.
    Mutter Hilde, die jetzt immer viel zu tun hatte, meinte, es würde mich aufheitern, wenn ich sie zu einer Niederkunft außerhalb der Stadtmauern begleitete, wo eine Frau ›dick genug für Zwillinge‹ war. Zusammen gingen wir durch die gewundenen Straßen zum Bishops-Tor, dann durch die jenseits gelegenen, schäbigen Vororte. Wie es sich herausstellte, waren es nicht Zwillinge, sondern Drillinge, alles Totgeburten, obwohl wir die Mutter retten konnten. Da sie arm war, tröstete sie sich über ihren Verlust mit dem Gedanken hinweg, daß sie ohnedies nicht für alle zu essen gehabt hätte. Als wir über Moorfields zurückgingen, sahen wir, daß die Marsch schon ganz zugefroren war und von kleinen Jungen wimmelte, die auf dem Eis dahinglitten. Man konnte ihre weißen Atemwölkchen sehen, wenn sie sich etwas zuriefen. Einige Jungen zogen andere, und wieder andere kämpften spielerisch miteinander, wobei sie Stöcke wie Lanzen einlegten. Am besten gefielen mir die, welche wie der Wind dahinsausten. Sie hatten sich etwas zum Gleiten unter die Füße gebunden und stießen sich mit zwei kleinen Stangen ab wie die Wilden. Ich sah ihnen hingerissen zu.
    »Hilde, Hilde, das will ich auch machen! Es sieht fast wie fliegen aus!« Ich bekam kaum noch Luft, so unbändig verlangte mich danach.
    »Margaret, du bist verrückt! Das schickt sich nicht für eine Frau! Siehst du dort auch nur eine einzige Frau oder ein Mädchen? Nein? Schlag es dir also aus dem Kopf! Du handelst dir nur Ärger ein.«
    Ich machte ein langes Gesicht. Was für eine alberne Vorstellung. War fliegen etwa nur für Jungen gedacht?
    »He, Junge, du da, wieso bist du so schnell?« rief ich einem kleinen Jungen in rostfarbenem Rock und Schaffellumhang zu.
    »Das machen die Schlittschuhe, Ma'm«, antwortete er und verlangsamte seine Fahrt.
    »Zeig mir mal«, bat ich, und er hielt zuvorkommend einen Fuß hoch, während er auf dem anderen balancierte. Er hatte sich einen roh bearbeiteten Schafsknochen unter die Sohle gebunden.
    »Darf ich mal probieren?«
    Er zog eine Grimasse und wollte davonsausen. Genau in diesem Augenblick tauchten seine Freunde hinter ihm auf.
    »Hu, hu, Jack hat sich eine Liebste angelacht!« höhnten sie.
    »Küßchen, Küßchen!«
    »Ist das aber eine große Freundin, die da!« Der kleine Junge wurde knallrot und schrie: »Gar nicht wahr! Sie ist bloß ein großes, altes Mädchen, das ich nicht mal kenne!« Gemeinsam glitten sie vergnügt davon. Doch die Freude währte nicht lange. Ein größerer Junge, den ein Freund vor sich herjagte, fuhr geradewegs in sie hinein, so daß alle in der kleinen Gruppe der Länge nach hinschlugen.
    »Heda, Jack, steh auf, wir wollen los.« Sie

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