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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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drängten sich um ihren Freund.
    »Kann nicht, ich hab mir den Fuß verstaucht.« Er machte ein gefaßtes Gesicht.
    »Is nich verstaucht, wackel mal damit.«
    »Aua! Hände weg, das ist mein Fuß.«
    »Und wie willst du nach Haus kommen?«
    »Könnt ihr mich nicht tragen?«
    »Ha, du bist gut, wenn wir zu lange brauchen, kommt der Meister dahinter, daß wir draußen gespielt haben.«
    »Und was ist mit mir? Wenn ich mit einem verstauchten Fuß zurückkomme, dann verprügelt er mich. Mein Meister ist noch viel strenger als deiner.«
    Das reichte mir. Vorsichtig schlidderte ich übers Eis zu der kleinen Gruppe hin und tat so, als ob ich Hildes warnenden Blick nicht sah, und dann bot ich meine Hilfe an.
    »He, da ist ja wieder deine Freundin.«
    »Mmm, die will ihn küssen und heile, heile Gänschen machen.«
    »Küß mich, mir tut's hier weh.« Das letzte war von einer obszönen Geste begleitet.
    »Ich kann nämlich helfen. Ich habe einen Trick, mit dem ich Leute heilmachen kann. Aber mit küssen hat das nichts zu tun«, und dabei starrte ich den Unflätigen böse an.
    »Dann macht schon, Lady, sonst sitzt er gewaltig in der Klemme.«
    Sacht betastete ich den Fuß, und er zuckte zusammen. Dann legte ich beide Hände auf die Verstauchung und machte meinen Geist bereit. Im Freien kann man das komische Licht überhaupt nicht sehen. Ich selber auch nicht. Von der Hitze merkte ich kaum etwas. Dann nahm ich die Hände weg. Behutsam bewegte er den Fuß – dann wackelte er damit hin und her.
    »Ja, es tut gar nicht mehr weh. Vielen Dank, Lady.« Aber jetzt wurde er auf einmal mißtrauisch. »Das kostet doch nicht etwa was?« Ich überlegte rasch.
    »Doch. Ich will deine Schlittschuhe ausprobieren.« Er sah entgeistert aus.
    »Los, Jack, das ist nur gerecht.« – »Mach schon, Jack, bezahlst du deine Schulden etwa nicht?«
    »Na gut«, murrte er, »Ihr fallt aber hin.« Ich war mir bewußt, daß Hilde hinter mir stand und sich, hin- und hergerissen zwischen Schreck und Belustigung fragte, was daraus werden mochte.
    Die Schlittschuhe waren für meine Füße zu kurz, und die Stangen auch. Ich machte ein paar Schritte, dann schlug ich mit einem Krach hin.
    »Das reicht jetzt. Da habt Ihr's. Ich hab ja gesagt, daß Ihr hinfallen würdet.«
    »Ich versuche noch mal.« So eine Schmach, wo ich doch hatte dahinsausen wollen. Schon malte ich mir aus, wie ich übers Eis fliegen würde. Aber meine Füße gehorchten einfach nicht.
    »He, Jack, das ist nur gerecht. Beim ersten Mal sind wir alle gefallen.« Seine Freunde kamen mir zu Hilfe – kann sein, sie wollten sich auch nur an seiner Verlegenheit weiden. Normalerweise wäre ich inmitten dieser Traube von kleinen Jungen, die rüde Bemerkungen machten, auch verlegen gewesen. Aber ich wollte so gern fliegen, daß es mir gleichgültig war. Ich machte einen Schritt; dann glitt ich, dann stieß ich mich ab, und schon nahm ich Fahrt auf.
    »Es ist genau wie fliegen!« rief ich ihnen fröhlich zu. Alsdann versuchte ich zu wenden und fiel wieder hin. Ich kam hoch und lachte zum ersten Mal seit Monaten. Sie lachten mit.
    »Darf ich wiederkommen?« bettelte ich. Sie pufften sich gegenseitig und lachten schon wieder.
    »Wir sind Schlachterlehrlinge. Wir bringen Euch größere Schlittschuhe mit, wenn Ihr wiederkommen wollt. Aber Ihr müßt die Freundin von uns allen sein, nicht nur seine.« Und so kam es, daß ich das Schlittschuhlaufen aufnahm und gleichzeitig zu Patienten kam. Denn auf dem Eis gab es viele Verletzungen, und denen, die nicht zu stolz waren, mich darum zu bitten, half ich auch. Bald gab es einen ständigen Zustrom kleiner Jungen, die sich nach der Diebesgasse durchfragten, um dann an meine Tür zu klopfen und mir ein blaues Auge oder gebrochene Finger zu zeigen. Manchmal kam auch ein Mädchen, aber nicht oft, denn Mädchen dürfen zwar in vielen Zünften als Lehrlinge arbeiten, aber doch nicht so frei auf der Straße herumlaufen wie die Jungen. Möglicherweise aber wagen sie auch einfach nicht, sich die Freiheit zu nehmen wie Jungen – denn ich bin überzeugt, daß viele von diesen Jungen eigentlich arbeiten oder Botengänge machen sollen, wenn sie auf einmal entdecken, wieviel Spaß es macht, zu bummeln oder Ball zu spielen oder sich zu prügeln. Und wenn genug beieinander sind, wer kann sie dann noch aufhalten? Zu jener Zeit kam mir London nicht mehr wie eine Stadt der Fremden vor, die allesamt auch gut ohne mich zurechtkamen. Ich erlebte es als eine Stadt der Kinder. Denn

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