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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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fortzog.
    »Aua! Mein Ohr!« hörten wir ihn schreien.
    »Du bist ein Ekel! Auf der Stelle kommst du rein und gehst weg da von der Tür dieser Frau. Eine Dirne ist sie, ich weiß Bescheid!«
    »Mir kommt sie ganz nett vor.«
    »Sie ist so, wie sie sein sollte. Wehmutter, ha! Viel zu jung dafür. Die könnte keiner Katze auf die Welt helfen. Fürwahr, die Gegend hier kommt langsam herunter –« Die Tür schlug zu, und wir hörten nichts mehr.
    Das war mein Problem. Die Straßen Londons mochten wohl mit Gold gepflastert sein, doch man braucht auch das richtige Gerät, um es herauszuholen. Ich konnte keine Kundschaft bekommen. Man tut sich schwer mit einem Gewerbe, wenn einen anfangs niemand kennt, viel schwerer als auf dem Dorf. Bei unserer Ankunft hatten wir zunächst in Cheapside gewohnt, alle zusammen in einem Zimmer, das man hinten von einer Garküche abgeteilt hatte. Es kostete nicht soviel wie ein Gasthaus, da Garküchenbesitzer keine Gäste zur Nacht aufnehmen dürfen, denn das gehörte zum Geschäft der Gasthausbesitzerzunft. Aber Bruder Malachi war irgendwie ein Meister in der Kunst des Sparens, so wie er da in zwielichtiger Umgebung lebte; und dort blieben wir auch, bis er für sich und seine so ›tragisch und frisch verwitweten Basen, welche er aus Gnade und Barmherzigkeit unterstützte‹ ein Haus zur Miete gefunden hatte. Eines Tages kehrte er händereibend zurück.
    »Also, meine Lieben, habe ich nicht immer gesagt, daß die Kehrseite der Katastrophe die Gunst der Stunde ist? Auf solch eine prächtige Bleibe hätten wir vor der Pestilenz niemals hoffen dürfen, doch die hat Platz geschaffen! Wir hätten auf ewig in einem gemieteten Zimmer leben müssen, doch nun haben wir dank meiner Findigkeit ein märchenhaftes, großes Haus gefunden, das wie geschaffen für unsere Zwecke ist. Macht euch auf einen veritablen Palast mit einem leichten Anflug von betagter Würde gefaßt!«
    Wir holten Moll aus dem Mietstall und schlängelten uns zusammen durch die engen Straßen von Cornhill, wo Bruder Malachi dann, kaum daß wir um eine Ecke gebogen waren, nach links deutete und verkündete, wir wären angekommen. In der Straße wurden Waren zum Verkauf angeboten, zumeist Krimskrams: ein paar Kappen und Handschuhe, Tassen, Löffel, ein Kochtopf, etliche Messer unterschiedlicher Größe.
    »Wo ist denn die Straße?« fragte ich. »Ich kann keine sehen.«
    »Geradewegs dort hinein«, bedeutete er mir, »abgeschieden, doch zentral gelegen.«
    Und er hatte recht! Zwischen den Häusern, die auf die Straße mit den Händlern gingen, gab es eine enge Einmündung, hinter der man eine lange, verwinkelte Gasse erkennen konnte. Sie verdiente kaum den Namen Gasse, sondern war eher eine gewundene Gosse, an die zehn Ellen breit und bestens geeignet, der Hauptstraße als Rinnstein zu dienen. Sie schien im Schatten zu liegen, denn selbst bei hellichtem Tag fand die Sonne nicht den Weg zwischen die dicht aneinandergebauten Häuser. Als wir die Gasse betraten, wollte mir das Herz sinken.
    »Wie nennt sich das hier?« fragte ich.
    »Einst war das wohl als St. Katherine's Street bekannt, hat sich jedoch in letzter Zeit den Namen ›Diebesgasse‹ erworben. Was da draußen verkauft wird – das sind zumeist gestohlene Waren, leider. Doch das Haus ist ein Fund. Da ist es.« Bruder Malachi wirkte sehr zufrieden mit sich.
    Ein Blick auf das Haus, und das Herz sank mir bis in die Schuhe. Ich blickte Hilde an, Hilde blickte mich an. Sie machte ein langes Gesicht. Ich dachte: ›Ich will nicht weinen, Hilde zuliebe‹. Doch in meinen Augen stach und kitzelte es. Das war wohl die scheußlichste, häßlichste Bleibe, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Groß war sie, das stimmte. Bei den anderen Häusern handelte es sich um schäbige ein- und zweistöckige Mietshäuser, und das entgegengesetzte Ende der Sackgasse wurde durch ein paar heruntergekommene, ebenerdige Hütten abgeschlossen.
    Das Haus da war ein schmalbrüstiges, einstöckiges Schreckensding, das sich wie ein alter Säufer zwischen zwei gleichermaßen betrunkene Kumpane auf jeder Seite quetschte, schäbige, zweistöckige Häuser, die man aufgeteilt und geschoßweise vermietet hatte. Keins von den dreien maß zur Straßenseite hin mehr als zwanzig Ellen an Breite. Links von unserem Haus gab es eine Rundbogentür mit einem kleinen Einlaß, der zum Hintergarten führte. Vielleicht war das Haus ja einst hübsch gewesen. Dazu kam noch ein unbemalter Blumenkasten mit ein paar Fetzen

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