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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Milch zum Frühstück erbettelt hatte. Danach schien sie von Haus und Hof Besitz zu ergreifen und war schon bald so fett wie ein wohlhabender Städter. Hilde freute sich darüber, denn sie hatte schon oftmals bedauert, daß sie ihren alten Mäusejäger hatte zurücklassen müssen und sich vorgenommen, in besseren Zeitläuften eine neue Katze zu kaufen. Bei Sonnenschein verschönert eine Katze die Gartenmauer und bei schlechtem Wetter die Feuerstelle, und so kam uns das Haus schon bald nicht mehr so trostlos vor.
    Als ich dann an einem regnerischen Nachmittag von der Arbeit kam, meinen Lohn in Form von Butter und Eiern säuberlich eingeschlagen im Korb, da fiel ich fast über ein Knäuel, das zusammengerollt vor der Haustür lag. Es glich einem Haufen zerschlissener Seile, und als es dann auch noch aufstand und sich hinter mir hoffnungsfreudig ins Haus schob, da war ich mir gar nicht so sicher, um was es sich eigentlich handelte, denn es sah vorn und hinten mehr oder weniger gleich aus. Ich holte mir also einen Eimer Wasser und einen Kamm, während das Geschöpf hinter mir hertapste, ließ mich bei der Hintertür nieder und wusch es, bis sich herausstellte, was es überhaupt war.
    »Was um Himmels willen wäschst du da?« fragte Bruder Malachi, der aus dem Stinkezimmer gekommen war, um frische Luft zu schnappen.
    »Ich weiß auch nicht, aber es scheint sich mehr oder weniger um einen Hund zu handeln«, gab ich zurück und fuhr fort, ihm die verhedderten Haare auszukämmen. In Wahrheit hatte ich mich furchtbar in ein Paar fröhliche, leuchtende Augen und ein Maul verliebt, das immer zu lächeln schien und das ich unter dem verfilzten Haar entdeckt hatte. Aber ein Hund will auch fressen, und so war es nicht recht, ihn zu behalten, wenn die anderen dagegen waren.
    »Ein Hund, äh? Sehr groß ist er ja nicht gerade. Ich könnte mir denken, daß er gut bellt. Margaret, man könnte durchaus in Betracht ziehen, dieses Geschöpf zu behalten, daß es uns warnt. Schließlich muß man auch an die Zukunft denken. Sehr bald schon werden sich im Haus die Goldbarren türmen, und das muß die Verbrecher einfach anlocken. Eine weise Vorsichtsnahme, so ein Wachhund. Ihr seht, Fortuna kümmert sich bereits um die Einzelheiten unseres neuen Lebens.«
    Und so blieb der Hund. Als Zeichen seiner Dankbarkeit sozusagen legte er mir am nächsten Morgen etwas zu Füßen. Es war eine tote Ratte, beinahe halb so groß wie er selbst.
    »Du liebe Zeit, Margaret«, sagte Mutter Hilde, »muß der sich aber gebalgt haben, daß er die erwischt hat. Er ist zwar klein, aber er hat das Herz eines Löwen.« Und so kam er zu dem Namen Lion, der Löwe, auch wenn mir fast jeder sagt, daß er albern ist. Aber Lion war sehr aufgeweckt, und mir machte es Spaß, ihm ein paar von den Kunststückchen beizubringen, die ich bei den Hunden der Gaukler gesehen hatte. Maistre Robert besaß ein wunderbares Geheimnis, wodurch nämlich seine Hunde so lebhaft wurden wie Menschenkinder. Statt sie wie störrische Esel zu schlagen, unterrichtete er immer nur eine Sache zur Zeit, und er brachte sie mit kleinen Belohnungen und Streicheln dazu, daß sie diese vervollkommneten. Eine sehr kluge Methode, denn so liebten ihn die Tiere, und auch ich machte mit großem Erfolg Gebrauch davon. Wenn dann wohl die kleinen Jungen zu Besuch kamen, beklatschten sie Lions Kunststücke, was ihm unheimlich gefiel, denn er zählte zu den Hunden, die sich gern bewundern lassen.
    Dank meiner kleinen Freunde war Lion nicht das einzige Geschöpf, daß in jener Zeit zu uns fand und blieb. Eines windigen Spätnachmittags im März antwortete ich auf ein schüchternes Klopfen an der Tür. Ein traurig aussehendes Geschöpf stand vor mir – ein magerer, unterentwickelter Junge, der sich eine lange, nicht verheilte Schnittwunde an der Hand hielt. Er hatte am ganzen Körper blaue Flecken und ging, als ob ihn alle Gliedmaßen schmerzten. Als er sprach, sah ich, daß sein Zahnfleisch rot und geschwollen war. Die Krankheit kannte ich gut. Sie tritt im Winter auf, wenn es nicht genug zu essen gibt.
    »Seid Ihr die Frau, die Schnittwunden heilt?« fragte er.
    »Die bin ich«, war meine Antwort.
    »Die Jungs sagen, daß Ihr das aus Liebe zu einem Bruder macht, der verschwunden ist. Er ist noch nicht wieder aufgetaucht, oder?«
    »Nein, ist er nicht. Aber willst du nicht hereinkommen?« Er schlich sich wachsamer herein als eine Katze und blickte sich so vorsichtig um, als ob ihm im Zimmer Gefahr drohte.
    »Wer ist

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