Die Stimme
einen Aufschrei am Südende der Brücke unterbrochen.
»Platz da! Platz da für den Herzog von Norfolk!« Ein Trupp gewappneter, adliger Herren mit ihren Gefolgsleuten, alle prächtig beritten auf Reisepferden und gefolgt vom Troß, überquerte die Zugbrücke in anständigem, flinken Trab. Man konnte die Sonne auf ihren silbern und golden bestickten Überröcken blitzen sehen. Brust und Hals ihrer Pferde waren schweißnaß von ihrem langen, schnellen Ritt. Vor ihnen teilte sich die Menge, jedoch nicht schnell genug. Mütter rissen ihre Kinder aus dem Weg, und erwachsene Männer drängelten sich in den Schutz der Hauseingänge. Die Menge strömte auf den engen ›Platz‹ zu, und wer Glück hatte, fand eine Fußgängernische in der Brückenmauer. Jemand stellte mir ein Bein, ich fiel hin. Dann fielen andere auf mich, und schon bald lag ich unter mehreren Leibern begraben. Mir ging die Luft aus, und durch mein Bein fuhr ein stechender Schmerz.
Als der berittene Trupp vorbei war, kamen die Schaulustigen wieder auf ihre Kosten, als man nämlich die Verwundeten auseinanderklaubte, in die angrenzende Brückenkapelle trug und sie auf den Steinfußboden legte. Einige hatten nur blaue Flecken und kamen bald wieder zu sich. Einem alten Mann hatte es das Rückgrat gebrochen, er war schon ganz grau im Gesicht wie alle, die im Sterben liegen. Der Priester beugte sich über ihn und salbte ihm die Stirn, während sein Meßgehilfe ihm mit der Kerze leuchtete. Neben mir verband ein Baderchirurg einem Mann die Rippen und pfiff dabei fröhlich vor sich hin. Als er fertig war, sah er mich an und sagte forsch:
»Na, was haben wir denn hier?«
»Mein Bein«, flüsterte ich, denn es tat sehr weh. Das Licht in der Kapelle war dämmrig und der graue Steinfußboden hart und ungemütlich. Der Sterbende stöhnte, was auch nicht gerade zur Stimmung beitrug.
»O, wie schön!« rief der Baderchirurg aus, als er meinen Rock hochschlug. »Ein herrlicher doppelter Bruch! Ja, da ist der Knochen!« Er hatte einen abscheulichen, gelblich-braunen Bart mit dazu passenden Augenbrauen und ungekämmtes langes Haar von der gleichen Farbe. Über seinem mausgrauen Wollkittel und einem dunkelgrünen Überrock trug er eine große Lederschürze mit vielen unheilverkündenden, dunklen Flecken, die ich für Blutspritzer hielt.
»Um alles, nicht anfassen!« schrie ich, als er das weiße Knochenstück betrachtete, das aus dem Bruch ausgetreten war. Mir war übel vor Entsetzen. Wer sieht auch schon gern seine eigenen Knochen.
»O, das fasse ich noch früh genug an. Ihr habt doch gewiß eine Familie, die bezahlen kann?«
»Ja – das hab ich«, brachte ich heraus.
»Dann werden wir Euch aufladen und mit ins Geschäft nehmen. Auf dem Kapellenboden läßt sich das nicht richten. Ihr müßt jedoch ein wenig warten. Ich habe in der Ecke dort drüben einen noch schöneren Bruch.« Er rief nach seinen Helfern, und nachdem er mir das Bein vorläufig geschient hatte, ließ er mich, nur ein paar Schritte hinter dem Mann mit dem ›schöneren Bruch‹ in seine Geschäftsräume bringen. Man trug uns durch die Tür eines schmalen Vorderzimmers, vor dem eine Baderstange stand, die mit roten, blutigen Verbänden geziert war, welche darauf hinwiesen, daß man hier zur Ader gelassen werden konnte, und legte uns dann auf den Bänken seines ›Geschäftes‹ wie Weizensäcke ab.
Was für ein trostloser Ort. Da stand ein großer Stuhl zum Haareschneiden, Rasieren und Aderlassen. Vor ihm auf dem Boden ein fleißig benutzt aussehendes Becken. Eine Kette aus Zähnen an der Wand warb für sein Geschick als Zahnzieher. An der anderen Wand hing ein grausiges Aufgebot von Instrumenten, wie man sie wohl in einer Folterkammer antreffen mochte: Messer, Sägen, Zangen und Brenneisen, während in einer Truhe Lanzetten und andere kleine Instrumente lagen. Am anderen Ende des Zimmers stand eine unheilverkündende Apparatur: sein arg lädierter und oft benutzter, hölzerner Operationstisch. Ringsum an den Wänden und auf den Möbeln konnte man dunkle Flecken von getrocknetem Blut erblicken, und die Binsen auf dem Fußboden waren dunkel und verfilzt von all dem, was aus ekelerregenden, alten Wunden so alles herausfloß.
»Also«, hörte ich ihn zu dem ersten Mann sagen, »Euer Bein ist ganz schön zerquetscht. In der Regel bekommt man dort Wundbrand. Wollt Ihr lieber mit dem Bein dran sterben, oder ohne weiterleben?«
»Leben, ich will leben«, murmelte der Mann. Er sah nach einem ehrbaren
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