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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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ganz fadenscheinig, das sind jene beiden Stellen, die am Rock eines Gelehrten am ehesten abnutzen. An einem abgewetzten Ledergürtel trug er eine Börse, einen Federkasten, ein tragbares Tintenhorn und ein Messer in einer schlichten Scheide. An kalten Tagen wie diesem, stopfte er ein Paar zerfledderte Beinlinge in seine Sandalen und warf sich einen Schaffellumhang über sein Gewand, das verfilzte Fell nach außen gewendet. Da Rasieren eine kostspielige Angewohnheit war, begannen Tonsur und Bart bei ihm auszuwuchern, und so waren denn seine finsteren, dunklen Augenbrauen von einem ungebärdigen schwarzen Lockenschopf überschattet.
    Margaret nickte, als sie ihn vorlesen hörte, was sie gesagt hatte, und stellte dabei fest, daß sie am Überlegen war, wie alt er wohl sein mochte. Sehr alt, vielleicht dreißig. Nein, womöglich doch nicht so alt. Kann sein, gar nicht viel älter als sie selbst. Das machte der ernste Blick, denn er war beim Schreiben ganz bei der Sache, und das ließ ihn alt wirken. Margaret hatte sich angewöhnt, Bruder Gregory bei der Arbeit sehr eingehend im Auge zu behalten. Zunächst war da die Sache mit den Löffeln. Und dann ging es um das Geschriebene, das Seite um Seite bedeckte. Es schien echt zu sein; das heißt, alles sah unterschiedlich und dazu noch sauber und klein aus. Margaret beobachtete die eigenartig zierlichen Bewegungen, mit denen Bruder Gregorys Pranken die verschlungenen Linien aus Tinte über das Papier zogen. Von ihrer eigenen Näharbeit her wußte sie, daß so anmutige Bewegungen wie diese nur das Ergebnis langer Übung sein konnten. Und doch überprüfte sie den Fortgang stets nach ein paar Seiten, indem sie ihn eine Stelle noch einmal laut vorlesen ließ. Und jedes Mal hörte sie zu ihrer Erleichterung genau das, was sie gesagt hatte.
    Das Licht des späten Nachmittags drang durch das dicke, runde, bleigefaßte Glas, aus dem sich die kleine Fensterscheibe zusammensetzte, und zeichnete eine leuchtende Spur über den Eichenschreibtisch. Geklapper und Geklirr aus der Küche deuteten an, daß es bald Abendessen geben würde. Dem Lärm schriller Stimmen folgte ein Türklappen und eilende Schritte.
    »Mistress Margaret, Mistress Margaret, die Mädchen zanken sich schon wieder! Es geht um rein gar nichts, bloß um ein Puppenkleid. Ich hätte sie gern beide durchgeschüttelt, weil sie Euch stören, aber Ihr habt gesagt, daß sie niemand als Ihr selbst anrühren darf, und da bin ich!« Die alte Kinderfrau schüttelte den Kopf und murmelte mehr zu sich: »Zankteufel, Zankteufel, eine wie die andere! Ohne die Rute hören die doch nicht! Wie oft muß ich das noch sagen?«
    »Bring sie herein, ich rede mit ihnen.«
    »Reden? Reden? Wie Ihr wünscht, Mistress.« Und die alte Frau watschelte kopfschüttelnd aus dem Zimmer, sie war überzeugt, daß sie einer Irren diente, die man um jeden Preis gewähren lassen mußte.
    »Ich habe nicht an die Kosten gedacht, Mistress Margaret, denn wie ich sehe, lebt Ihr in behaglichen Umständen«, nahm Bruder Gregory etwas gereizt über die Unterbrechung den Faden wieder auf. Er ließ den Blick durch den luxuriösen, kleinen Raum schweifen, der selbst gemessen am Standard Londons etwas ganz Neues darstellte. Er befand sich zusammen mit Roger Kendalls Diele, Küche und den Kontoren im Erdgeschoß und diente gänzlich seiner Bequemlichkeit und Zerstreuung. Hier versammelte sich die Familie zum Vorlesen oder einfach, um zu plaudern und die Rosen im Hintergarten zu bewundern, die man leicht verzerrt durch die Fenster aus richtigem Glas erblicken konnte. Statt des üblichen Binsenbelags auf dem Fußboden breitete sich unter Bruder Gregorys Füßen ein leuchtend farbiger Orientteppich aus. In einer Ecke stand eine geschnitzte Truhe, eine Rarität, und in einer breiten, verschlossenen Lade mit Eisenbändern beim Schreibtisch befanden sich Roger Kendalls größte Schätze, hätte Bruder Gregory nur durch den schweren Deckel hindurchsehen können. Zu dem Krimskrams, den er von seinen Reisen ins Ausland mitgebracht hatte, gesellten sich neunzehn prächtig kopierte und hübsch in Kalbsleder gebundene Bücher. Als man Bruder Gregory zum ersten Mal in dieses Zimmer führte, da hatte er es sorgfältig gemustert und innerlich die Nase gerümpft:
    »Ein reicher Mann, doch sein Geschmack ist unziemlich luxuriös für jemanden, der nicht von Adel ist.« Und jetzt wandte er sich an die verwöhnte Kindfrau dieses luxusliebenden, trefflichen Mannes und bemühte sich

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