Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
ernsthaft, wenn auch wahrscheinlich vergeblich, ihr etwas Verständnis für literarischen Stil zu vermitteln.
    »Das Problem sind nicht die Papierkosten«, fuhr er fort. »Ich dachte vielmehr an das Beispiel der Heiligen, der Weisen und der alten Griechen und Römer. Sie kommen geradewegs und ohne viel Umschweife zur Sache.« Er deutete auf die Blätter mit Geschriebenem. »Nur so kann jemand Nutzen aus ihren erhabenen Gedanken und ihrer Beobachtungen der Wunder Gottes ziehen.«
    »Soll das heißen, ich rede zuviel, nur weil ich eine Frau bin?«
    »Das nun gerade auch nicht, aber – doch. Ihr schweift zu sehr ab, es fehlt einfach die Quintessenz. Beispielsweise sollte jeder Abschnitt eine wichtige moralische Lektion oder eine Reflexion beinhalten, und das Wesentliche müßte von allen nichtigen Banalitäten befreit werden. Aber«, sagte er und legte dabei voll Ironie den Kopf schief, »andererseits könnte man auch behaupten, daß die Aufwertung von Belanglosem kein ausschließlich weiblicher Fehler ist.«
    »Aber ich muß trotzdem so weitermachen, denn anders weiß ich es nicht anzufangen.«
    Alle weiteren Gedanken wurden durch das Zuschlagen der aufgerissenen Tür unterbrochen, als die Kinderfrau zwei wütende, laut brüllende, rothaarige Mädchen hereinzerrte, die nur anderthalb Jahre im Alter auseinander waren. Die Ältere – sie zählte knapp vier Lenze – hielt den Streitgegenstand umklammert: eine zerfledderte, halb angezogene Puppe. Ihre großen, blauen Augen funkelten in gerechtem Zorn. Die wilde, kastanienbraune Lockenmähne, die kein Haarband ganz bändigen konnte, hatte sich gelöst und erweckte den Eindruck, als ob gerade ein großer Kampf stattgefunden hätte. Ihr Kleidchen war in Unordnung geraten, und sogar die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken schienen vor Zorn zu funkeln. Die Jüngere war das genaue Gegenteil: ihr normalerweise friedfertiges Gesichtchen, das noch kleinkindlich gerundet war, sah verweint und tränengestreift aus, denn seine Besitzerin hatte es ganz bewußt zu einem Bild gekränkter Unschuld gemacht.
    »Sie ha-hat mich an den Haaren gezogen!« zeterte die Kleine und deutete mit der Patschhand auf die seidigen, erdbeerblonden Wellen über ihren Ohren.
    »Hab ich nicht!« fuhr sie die Ältere an.
    »Kinder, Kinder!« sagte ihre Mutter in dem ruhig verweisenden Ton der Erwachsenen. »Zanken und Lügen, und das noch vor Besuch! Schämt ihr euch denn gar nicht?« Sie drehten sich um und starrten Bruder Gregory an. Sie schämten sich ganz entschieden nicht, nein, sie schätzten ihn auch noch ab, ob er als Bundesgenosse in Frage käme.
    »Schwestern sollten sich lieben! Sie sollten sich helfen und alles teilen, aber nicht streiten!« Die Ältere umklammerte die Puppe nur noch fester und warf der Jüngeren ein selbstzufriedenes Lächeln zu. Die Kinderfrau fand es sichtlich abscheulich, wie sie sich aufführten; sie ließ sie los und bat darum, gehen zu dürfen.
    »Ja, aber bleib in der Nähe, denn du mußt sie wieder mitnehmen, wenn das hier erledigt ist.« Die Kinderfrau verdrehte unauffällig die Augen gen Himmel, sie schien zu denken, daß derlei sich nie erledigte.
    »Also, wem gehört die Puppe?« fragte Margaret in gelassenem Ton.
    »Mir!« rief die Ältere.
    »A-aber, das Kleid gehört mir!« schluchzte die Jüngere. »S-sie hat gesagt, ich könnte mit ihr spielen, wenn ich es ihr borge!«
    »Cecily, hast du Alison versprochen, daß sie mit deiner Puppe spielen darf, wenn sie dir das Kleid borgt?«
    »Ja, und das hab ich auch«, verkündete die kleine Pharisäerin.
    »Nur ein ganz kleines bißchen, und dann hat sie danach gegrapscht!«
    »Und was hast du dann getan, Alison?« fragte die Mutter sanft.
    »Ich hab sie getreten.«
    »Und darum hast du sie dann an den Haaren gezogen, Cecily?«
    »Ja, aber das gilt nicht, weil sie zuerst getreten hat!«
    »Mädchen, die sich zanken, enttäuschen ihre Mama.« Die beiden zeigten keinerlei Reue. »Mädchen, die sich zanken, machen ihren Papa traurig.« Erschrocken blickten sich die Mädchen an. Das schien ernst zu sein. »Und damit sich die Mädchen nicht mehr zanken, nehme ich ihnen die Puppe weg und lege sie in die Lade, hier, bis die Schwestern sich küssen und sich entschuldigen und versprechen, lieb miteinander zu spielen.« Mit einer raschen Bewegung entzog Margaret ihnen die Puppe und setzte sie auf die Lade in der Ecke. »Und wenn ihr euch heute noch einmal zankt, bleibt sie die ganze Woche hier«, sagte sie bestimmt.
    Entsetzt

Weitere Kostenlose Bücher