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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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äußerlicher Schlichtheit, daß sie im Herzen ganz gülden war und daß sie eine außergewöhnliche Zahl von Eitelkeiten zierte. Ja, die Frau war unmöglich, und nur ein Narr konnte ihren Auftrag annehmen. Ihn hielt mittlerweile nur der Stolz auf seine Ehre bei der Arbeit – und wer wußte, wie lange der vorhalten mochte? Wenn er sie vielleicht zu einem erbaulicheren Stil anleiten könnte – möglicherweise auch zu einem gehobeneren Thema –, dann wäre das hier keine Zeitvergeudung.
    »Bruder Gregory, ich habe die Alten nicht vergessen und habe auch darüber nachgedacht.« Ein klügerer Mann wäre durch Margarets honigsüßen Ton gewarnt gewesen. Bruder Gregory jedoch sah mit strengem und mißbilligendem Blick auf sie herab.
    »Haben die alten Griechen und Römer viel über Frauen geschrieben? Ich möchte über die Dinge schreiben, die ich kenne, und ich bin eine Frau. Sagt mir also, wie die Frauen der Alten geschrieben haben, dann will ich mich auch danach richten.«
    »Die Frauen der alten Griechen und Römer haben nicht geschrieben und bewiesen damit mehr Klugheit und Diskretion als gewisse Frauen heutzutage.« Bruder Gregory warf Margaret einen strafenden Blick zu.
    »Aber die Alten waren keine Christen und darum nicht so aufgeklärt wie wir. In unserer aufgeklärten Zeit sind die Frauen doch viel weiter und schreiben außerordentlich einfühlsam über tiefsinnige Dinge. Die Heilige Brigitta beispielsweise –«
    »Die Heilige Brigitta ist zunächst einmal eine Heilige und schreibt zweitens über tiefsinnige Dinge der Seele und nicht über weltliche Oberflächlichkeiten. Das solltet Ihr Euch zu Eurem eigenen Heil zu Herzen nehmen.«
    Etwas – irgend etwas an Margaret war merkwürdig, und das hatte er früher schon irgendwo gesehen, konnte aber nicht den Finger darauf legen. Es war so geringfügig, daß man es fast übersah, und hatte doch die Waagschale zugunsten seiner Schreibarbeit für sie gesenkt. Das war an jenem Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen und das Licht sich einen Augenblick in ihren Augen gespiegelt hatte. Selbst noch im dämmrigen Schatten der Kathedrale, hatten ihre Augen ganz kurz golden aufgeleuchtet wie die eines Falken. Wahrlich, ein sehr merkwürdiger Blick. Wo hatte er den schon einmal gesehen? Gewiß nicht an einer Frau. Aber wo? Die Sache gab ihm Rätsel auf. Doch da er mittlerweile keine unangenehmen nächtlichen Visionen von Lammkoteletts mehr hatte, lastete er sich mangelnden Stolz an. In der Welt des geschriebenen Wortes sollte es Maßstäbe geben, und an die hatte er sich nicht gehalten. Dafür gab es keine Entschuldigung. Er seufzte. Schuld an allem war die Neugier.
    »Und auch das ist Eitelkeit«, stellte Bruder Gregory grämlich bei sich fest. Sorgsam spitzte er im voraus eine Reihe Federkiele an, denn nach den Erfahrungen der ersten Woche war klar, daß Margaret für seinen Geschmack viel zuviel redete und nur selten eine Pause einlegte, wenn sie erst einmal in Fahrt gekommen war.

    Der Winter meines dreizehnten Lebensjahres war sehr hart. Zuerst ließ das feuchte Wetter den Roggen verfaulen, dann gefror der Boden. Alles im Dorf war am Husten, und die Krankheit brachte Säuglingen und Schwächeren den Tod, unter ihnen auch Oma Agnes. Um Fastnacht herum gab es keine Seele mehr im Dorf, deren Gaumen nicht blutete, und auch meine Zähne schienen locker zu sitzen.
    Aber das Wetter war noch nicht das Schlimmste. Nachts lag ich wach auf meinem Dachboden, lauschte auf die schweren Atemzüge neben mir und auf das Geräusch, das die Ochsen machten, wenn sie sich im Stroh bewegten, und überlegte, was aus mir werden sollte? Alles veränderte und wandelte sich irgendwie so, daß ich nicht mehr mitkam. Manchmal hatte ich grundlos Angst.
    Und dann legte Mutter Anne eines eisigkalten Tages jäh die Spinnarbeit beiseite und stand vom Feuer auf. Ganz allein ging sie durchs Dorf hinaus zur vereisten Kuppe des niedrigen Hügels und stand dort lange Zeit, und der Wind blies ihr in den abgetragenen Umhang. Ich folgte ihr aus Neugier, und als ich mich näherte, schimpfte sie nicht wie gewöhnlich mit mir und schickte mich auch nicht fort, sondern stand nur da, ohne zu sehen oder sich zu rühren. Als ich sie anblickte, merkte ich, daß sie stumm weinte. Die Tränen schienen auf ihrem Gesicht zu gefrieren, während sie wortlos vor sich hinweinte.
    »Mutter Anne, Mutter Anne, was ist denn?« fragte ich, als ich sie eingeholt hatte.
    »Das ist dir doch egal, wieso fragst du überhaupt?«
    »Es

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