Die Stimme
Flüssigkeit ausgewrungen, dann holte er die lange, muldenförmige Schiene.
»Da«, sagte er und reichte mir einen schweren Lederstreifen mit allerhand Zahnabdrücken. »Darauf könnt Ihr beißen. Ihr dürft mir nicht soviel Lärm machen. Sonst brecht Ihr Euch noch einen Zahn ab. ›Primum non nocere‹ , sag ich immer.«
Es ist ein Naturgesetz, daß man auf einen Menschen, der außerstande ist zu widersprechen, mehr einredet, als es jenem lieb ist. John der Blitz war ein Meister der einseitigen Unterhaltung. Während ich mich in unbeschreiblichen Qualen unter dem vollen Gewicht seiner Helfer wand, strömte sein heiterer Redefluß nur so dahin.
»Na, wo ist denn die andere Seite – aha, da haben wir sie ja! Beide Knochen glatt durchgebrochen! Hmmm. Manch einer glaubt, die Brücke ist ein merkwürdiger Ort für eine Praxis, aber sie ist einfach großartig – alle Hände voll zu tun, bei Tag und bei Nacht. Unfälle, Raufereien, Ertrunkene – es vergeht keine Woche, daß man nicht ein paar umgekippte Bootsleute schreien hört. Nicht so zappeln, ich bin gerade am Einrichten. O ja. Man muß nur wissen, daß die Kehrseite der Katastrophe die Gunst der Stunde ist. Die Gunst! Wenn die Geschäfte flau sind, was in dieser ausgezeichneten Lage wirklich selten vorkommt, erinnere ich all diese gesunden Kaufleute daran, daß der am ehesten gesund bleibt, der wenigstens viermal im Jahr zur Ader gelassen wird. Jede Jahreszeit einmal – das bringt die Körpersäfte ins Gleichgewicht. Hab ich nicht schon gesagt, Ihr sollt stillhalten – Ihr macht mir ja meine Arbeit wieder zunichte! Jetzt, wo es gerade ist, verpacken wir es in Knochenwurz. Ihr habt ja gar keine Narben an Handgelenk und Knöchel. Ich sehe schon, Ihr kümmert Euch nicht um Eure Gesundheit. Wie Ihr ohne die einfachste Vorsorge wie Aderlassen so alt werden konntet, das will mir nicht in den Kopf – so, jetzt schnallen wir es fest –, Eure Säfte sind wahrscheinlich im Augenblick sehr unausgewogen, Ihr könnt gar nicht gesund bleiben, es sei denn durch ein Wunder, wenn Eure Körpersäfte nicht in Ordnung sind – hmm, ja. Eine nette Leistung, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen. Habe ich das nicht nett hingekriegt?«
»Aber ja, Master John«, sagten seine Helfer im Chor.
»Jetzt schicken wir einen Jungen, daß Eure Leute Euch abholen. Wo sagtet Ihr noch, wohnt Ihr?« Ich war so schlapp wie ein nasser Lappen und konnte kaum flüstern »Cornhill, St. Katherine's –« als sie den Knebel herauszogen.
»›Diebesgasse‹? Bei Christi Knochen! Wenn ich das gewußt hätte, ich hätte es vielleicht nicht gerichtet.«
»Keine Sorge, Ihr bekommt Euer Geld –«
»Na da bin ich aber froh – macht den Tisch frei, Jungs, man weiß nie, wann sich die nächste Gelegenheit bietet.« Master John ging pfeifend umher, brachte seine Instrumente wieder fort und bereitete sich auf den nächsten Patienten vor. Das war ein Mann, dem seine Arbeit Spaß machte.
Es gibt zwar Dinge, die mir noch peinlicher sind, als auf einer Chirurgenbahre durch die Straßen Londons getragen zu werden, doch es steht auf meiner Verdrußliste recht weit oben. Schade, daß ich nicht blutete oder ohnmächtig war, was nicht nur würdevoller, sondern auch weniger schmerzhaft gewesen wäre. So kam ich mir furchtbar albern vor, als Bruder Malachi eintraf und etwas verärgert wirkte, weil man ihn bei der Arbeit unterbrochen hatte. Zwei große Lümmel aus der Nachbarschaft begleiteten ihn, er hatte sie angeheuert, daß sie mich nach Haus trugen. Er bezahlte die Miete für die Bahre und machte mit dem Chirurgen aus, die Rechnung in zwei Raten zu begleichen. Ich war erleichtert, als sie mich aufhoben und aus dem Laden des Chirurgen trugen. Die finstere Schauerlichkeit dieses Ortes drückte mir aufs Gemüt. Wir waren eine richtige Prozession: die Lümmel, die Bahre, Bruder Malachi in seinem alten, versengten und fleckigen Habit und ein Helfer des Chirurgen, der die Bahre zurückbringen sollte.
»Das kommt davon, wenn man herumwandelt, Margaret. Denk an meine Worte, du kannst von Glück sagen, daß man dich noch nicht überfallen und ausgeraubt hat. Hoffentlich suchst du dir deine Kundinnen jetzt in der unmittelbaren Nachbarschaft. Du bist einfach nicht schlau genug, als daß du in einer großen Stadt auf dich aufpassen könntest.« Und so fort, und so fort schimpfte er, woran ich ermessen konnte, daß er mich mittlerweile trotz seiner angeblichen Bindungslosigkeit ins Herz geschlossen hatte. Als wir dann
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