Die Stimme
nachgehen konnte, begrüßten mich die Nachbarinnen aus dem Fenster. Als ich gänzlich genesen war, stellte sich heraus, daß sie die ›kleine Wehmutter‹ als beinahe fast so gut wie die ›Große‹ und viel billiger herumempfohlen hatten. Während meiner Genesung hatte ich mir einen Namen gemacht, als hätte ich in der Zeit hundert Kinder gesund entbunden. Woran man wieder einmal sieht, daß man in einer großen Stadt auf merkwürdige Weise zu einem guten Ruf kommen kann. Jetzt wußte ich, daß ich mir in London immer meinen Lebensunterhalt würde verdienen können.
Bruder Gregorys angeborene Streitsucht war durch seinen Kleiderwechsel arg in Mitleidenschaft gezogen, und so begnügte er sich damit zu warten, daß er mit Schreiben fertig wäre, ehe er sein überraschendes Argument losließ. Dann konnte er sich zurücklehnen und sich an Margarets Verärgerung weiden.
»Schwarz steht Euch gut, Bruder Gregory. Sehr würdevoll«, bemerkte Margaret, während sie die geschriebenen Seiten, die sie in der Hand hielt, überprüfte. Zwar konnte sie noch nicht alles lesen, aber die unendliche Freude daran, daß sich die dunklen Schnörkel auf dem Papier zu den Worten formten, die von ihr stammten, hatte im Lauf der letzten Wochen nicht im mindesten nachgelassen.
»Ich komme mir wie ein Narr vor.« Bruder Gregory blickte auf das dunkle, pelzverbrämte Gewand und zupfte verzagt daran herum.
»Dieser Tage gehen doch viele Kleriker dazu über, daß sie weltliche Kleidung tragen, einige sogar wie die Gecken. Ei, erst gestern sah ich einen Mönch mit buntfarbiger Bruch, der keine Tonsur mehr hatte. Also, der sah nun wirklich wie ein Narr aus.« Margaret saß auf den Kissen in der Fensternische, blätterte die Seiten langsam um und blinzelte ein ganz klein wenig, wenn sie an eine schwierige Stelle kam.
»Das kommt daher, daß sie keine wahren Sucher sind. Das macht eben unsere Zeit. Seit der großen Pestilenz lassen Priester ihre Gemeinden im Stich und fallen auf der Suche nach leichter Arbeit wie Seelenmessenlesen in London ein. Unwissende, geldgierige Burschen, die ein A nicht von einem B zu unterscheiden vermögen, ganz zu schweigen von Lateinkenntnissen, haben sich der Religion zugewandt. Was mich angeht, so ist das eine Schande. Doch das ist nun einmal der Lauf der Welt. Die alten Tugenden sind vergessen. Wir leben eben kein Gott wohlgefälliges Leben mehr.« Bruder Gregory starrte düster seine sauberen Fingernägel an.
»Ein Gott wohlgefälliges Leben? Wann hätte es Gott wohl gefallen, daß wir so leben, wie wir leben? Oder wie wir vor der Pestilenz gelebt haben? Oder wie der Papst und die Kardinäle in Avignon mit all ihren Buhlerinnen leben? Gewißlich hat sich Gott das anders vorgestellt. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, daß man früher tugendhafter gewesen wäre. Ihr habt Euch bloß in einen düsteren Gemütszustand hineingesteigert.« Margarets Stimme klang entschieden selbstgerecht, während sie die Geheimschublade in der Truhe öffnete und die eben erst fertiggestellten Seiten des Manuskriptes hineinlegte. Als sie sich umdrehte und Bruder Gregory anblickte, spannte er die Falle.
»Wie Gottes Plan auch immer aussehen mag, sicher ist es eine Sünde, sich ihm zu widersetzen, oder?«
»Vermutlich, doch zunächst muß man doch wissen, wie der Plan ausschaut.«
»Wie steht es beispielsweise mit Gottes Plan, daß er die hohen Stellungen in der Welt an Menschen von edlem Blut vergibt?«
»Ach, schon wieder das? Daran glaube ich ganz und gar nicht. Durch wen werden denn Dynastien gegründet? Durch den Mann mit dem ältesten Stammbaum oder den Mann mit dem mächtigsten Schwertarm? Ich glaube, durch letzteren.«
»Und ich sage, das Schwert wird dem mit dem mächtigsten Blut verliehen, was wiederum zeigt, daß die von Geblüt regieren sollen.« Wenn Margaret in eben diesem Augenblick nicht so zufrieden mit sich gewesen wäre, sie hätte an Bruder Gregorys Stimme gemerkt, daß er sie aufs Glatteis führte. So antwortete sie:
»Und ich sage, Gottes Gaben sind willkürlich; Er gibt, wie es Ihm beliebt.«
»Gott, ein Anarchist? Nie und nimmer!« Bruder Gregorys Augen glitzerten. Jetzt hatte er sie. »Nehmen wir doch etwas, das Ihr für ein gutes Beispiel halten mögt. Besaß Euer Bruder nicht Gaben, mit denen er auffiel? Würdet Ihr nicht sagen, das beweist Eure These, weil er auf Grund seiner Begabung eben höher aufstieg?«
Margaret sah verwirrt aus.
»So könnte man wohl sagen, aber er hat auch schwer
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