Die Stimme
ist mir nicht egal. Wein doch nicht so, du wirst sonst noch krank.«
»Ist ja doch allen egal, ob ich krank bin.«
»Aber, das ist keinem egal – keinem von uns ist es egal.«
»Allen ist es egal. Ich bin alt und zähle nicht mehr.«
»Aber du bist doch nicht älter als sonst auch«, wandte ich ein.
»Diesen Winter ist mir der letzte Zahn ausgefallen. Meine ganze Schönheit ist dahin, und jetzt bin ich alt, bis ich sterbe.« Ich blickte sie verständnislos an.
»Das verstehst du nicht, was?« Sie fuhr heftig zu mir herum. »Für dich bin ich immer nur die alte Mutter Anne gewesen, die Häßliche. Aber ich war einmal schön. Ich hatte Zähne wie Perlen und eine Haut so schön und glatt wie Blütenblätter, genau wie du jetzt. Und dazu hatte ich Haare wie gesponnenes Gold, so wie man es noch nie gesehen hatte. ›Ein güldener Strom‹, ja, so nannte man es.« Der eisige Wind drang mir bis ins Mark. »Jetzt habe ich keine Zähne mehr, alle weg. ›Einen für jedes Kind‹, sagt man. Einer und viele, viele mehr! Aber ich habe sie für tote Kinder dahingegeben. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Meine Schönheit und Liebe für tote Kinder dahinzugehen? Fürwahr, hätte ich zehn lebende Kinder, ich wäre geachtet, geachtet!« Die Tränen rannen nicht mehr, doch der starre Blick ihrer gefrorenen, eisblauen Augen war ohne sie noch unmenschlicher.
»O, eines Tages wirst du schon noch verstehen. Deine Mutter kann von Glück sagen! Sie ist in der Blüte ihrer Schönheit gestorben. Ihr leuchtendes Haar umgab sie im Leichentuch wie ein großer Umhang. Noch im Tod war ihr Gesicht lieblicher als das Antlitz der geschnitzten Muttergottes. ›Da sieh nur, diese Schönheit, dieses arme, holde Wesen! Eine Heilige, eine arme Heilige, die zwei arme, kleine, mutterlose Würmchen zurückgelassen hat.‹ Zwei hartherzige, schlaue, kleine Würmchen, fürwahr, damit konnte sich die arme, häßliche Anne herumplagen und sie aufziehen. Und wenn sie gut geraten, wessen Verdienst ist es dann? Das der toten Heiligen natürlich! So ist das nämlich. Warum sollte es auch anders sein? Sag mir, sag mir, was machst du, wenn du einmal alt und häßlich bist und dich niemand mehr will, nicht einmal mehr deine Kinder?«
»Aber Rob und Will –« Sie drehte sich um und sagte bitter:
»Rob und Will? Das ist eine Teufelsbrut und eines Tages kommt er auch und holt sie sich. Und ich, ich werde immer allein sein, bis ich sterbe.«
Nie hätte ich vermutet, daß ihr schlichtes Gemüt so denken konnte und daß sie soviel Geheimes so klar gesehen und doch weitergemacht hatte. Plötzlich ergriff mich eine Zuneigung zu ihr, die war so tief, daß ich mir nicht vorstellen konnte, woher sie wohl rührte.
»Komm bloß weg von dieser kalten Stelle, Mutter Anne, und ich will auch versuchen, dir eine gute Tochter zu sein. Eine richtige Tochter.« Sie nickte mit abwesendem Blick und ließ sich ganz in ihre eigenen Gedanken versunken hügelabwärts nach Hause führen.
Alles war still, als wir zurückkamen, denn Vater und die Jungen waren ausgegangen, um mit den älteren Männern im Dorf zu beraten, wann sie mit der Aussaat beginnen sollten. Der Boden war noch so hartgefroren, daß man sie aufschieben mußte. Ich brachte Mutter Anne zu Bett und deckte sie gut zu, denn sie hatte angefangen zu zittern, und man sah ihren Augen an, daß sie sterben wollte. Als Vater und meine Brüder hereinplatzten und den Inhalt des Kochtopfs prüften, versuchte ich, sie abzulenken, damit sie Mutter Anne in Ruhe ließen. Doch vergebliche Liebesmüh, Vater sah sie zur Mittagszeit unter einem Deckenberg mit blauen Lippen im Bette liegen und kam zu ihr herüberspaziert.
»Na, du alte Sau, mittags im Bett liegen, was? Hast wohl zuviel den Besen geschwungen und kannst jetzt nicht mehr!« Die Männer lachten, selbst ihre Söhne. Jetzt stand statt des Wunsches zu sterben in ihren Augen die helle Wut: Sie funkelte ihn zornig an.
»Ha! Wenn du schwächer wirst, werde ich stärker«, machte er sich über sie lustig. »Wir werden ja sehen, wer jetzt das Regiment führt!« Er stolzierte vor dem Bett auf und ab.
Sie setzte sich senkrecht auf.
»Du alter Ziegenbock«, keifte sie. »Du hast ja nicht mehr Kraft als ein Pfaffenfurz! Dir werd ich zeigen, wie ich den Besen schwinge!« Und schon war sie aus dem Bett gesprungen.
Vater wich ihr flink aus und drohte sarkastisch mit dem Finger:
»Noch ein Schlag, Mutter Lazarus, und du kriegst nicht zu hören, was es Neues gibt.«
»Neues? Neues? Was
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