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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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so übel. Nachdem der schwarze Rauch abgezogen war, tünchten wir die beiden unteren Zimmer. Jetzt sah es bei uns direkt wohlhabend aus: im Vorderzimmer hatten wir einen Tisch, ein paar Hocker und eine Bank. Unser frisch gefegtes Herdfeuer zierten zwei große Töpfe und etliche kleine Gefäße. Wir hatten einen prachtvollen Holzstoß und weiteres Holz im Schuppen, außerdem eine hübsche Lade und ein paar Körbe. Bruder Malachi hatte in einer Anwandlung von Großzügigkeit in beiden Zimmern besondere Regale einbauen lassen, und dort lagerten wir die Kräuter in luftigen Körben, dazu noch andere Arzneien in kleinen Kästchen und Tonkrügen. In einem Winkel hängte Hilde wie gewohnt große Kräuterbündel zum Trocknen an der Decke auf, doch nicht überall wie früher. Auf dem Fußboden lagen keine Binsen, doch da dieser aus richtigen Fliesen gemacht war, nicht etwa aus festgetretenem Lehm, hatten wir ihn gebohnert, bis er glänzte. Weil das Stinkezimmer nicht mehr in Betrieb war, konnte man den beißenden Duft der Wildkräuter riechen. Es war zwar immer noch dunkel drinnen, doch abstoßend konnte man es nicht mehr nennen, und das war ein großer Fortschritt.
    Aber Hilde weinte und weinte, denn Bruder Malachi fehlte ihr in dem großen Bett, und sie machte sich Sorgen, daß er nie wiederkommen würde. Ich versicherte ihr, er würde zurückkehren, denn seine Destille würde er nie und nimmer im Stich lassen, und da hörte sie auf, um ihn zu trauern, denn es war ja doch die reine Wahrheit. Tatsächlich kam er einige Zeit später mit der Tasche voller Geld und einer Reihe von merkwürdigen Dingen zurück, dazu aufgeblasener denn je. Aber das ist eine andere Geschichte.
    Hilde fühlte sich immer einsamer und regte sich auf, daß das Haus ›nicht richtig‹ wäre. Ihre Arbeit machte ihr keinen Spaß, obwohl sie alle Hände voll zu tun hatte. Draußen war der Frühlingswahn ausgebrochen. Als das Wetter nicht mehr so rauh war, kam eine Schar Leute auf der Straße vorbei, die sich bis zur Mitte entblößt hatten, Männer wie Frauen, und sich mit stachligen Peitschenschnüren geißelten, bis ihnen der Rücken blutete. Sie schrien, während sie in Richtung Kirche zogen, jeder solle bereuen, denn das Ende der Welt sei nahe herangekommen. Wer sich nicht versteckte, der bereute weiß Gott. Er bereute, daß er sie erblickt hatte, denn sie schnappten sich jeden, den sie zu fassen bekamen und zwangen ihn mitzuziehen und sich mit ihnen zu geißeln. Es ist immer besser, die Läden fest zu schließen, wenn sich dergleichen Volk herumtreibt.
    In jenem Frühling gab es fast nur ein Thema: das Ende der Welt. Ich sah in Cornhill einen Mann im Stock; er hatte behauptet, daß die Sündhaftigkeit von Bürgermeister und Stadtältesten das Ende der Welt über uns brächten. Vielleicht wäre es ihm nicht so übel ergangen, wenn er keine näheren Angaben zu den in Frage kommenden Sünden gemacht hätte. Es tut nie gut, Leute und Orte zu benennen.
    Wenn ich das Haus verließ, ging ich immer geradewegs und ohne mich aufzuhalten zu meiner Kundschaft, das Brennende Kreuz lag wohlbehalten unter meinem Überkleid verborgen, denn dort konnte es niemand sehen. Warum sollte ich auch Wegelagerer oder Verrückte anlocken? Aber ich konnte noch so vorsichtig sein, Ärger gab es trotzdem. Als ich eines Tages zu einer schmutzigen, kleinen Gasse nicht weit von Fenchurch kam und eben dort einbiegen wollte, da wurde ich beinahe von einem großen, zahnlosen Mann über den Haufen gerannt, der ganz außer sich, ich weiß nicht wohin zu laufen schien.
    »Weg da! Ich muß ihn anfassen!« schrie er. Vor mir versperrten drei Frauen, die sich untergefaßt hatten, den Weg in die Gasse und schoben sich um die Ecke.
    »Einmal ansehen genügt, und man ist errettet!« Ich konnte andere Stimmen hören, und als ich die Gasse entlangblickte, wimmelte sie von Menschen. Alles war in wildem Aufruhr.
    »Ein Wunder!«
    »Ich will ihn auch sehen! Haltet ihn hoch!«
    »O, mein Gott, wie wird mir!«
    »Ein Zeichen!«
    »Ja, das Ende der Welt ist nahe herangekommen!« Schon wieder das Ende der Welt! Ich stellte mich in einem Torweg, damit man mich nicht niedertrampelte, denn das Menschenrinnsal war zum Strom geworden. Krüppel auf Krücken, Kinder, die blinde Bettler führten, abgerissene Arbeiter mit zerfledderten Beinlingen, alte Frauen in formlosen, grauen Kleidern und arme Trottel – alles drängelte und schrie.
    »Gute Frau, was ist denn hier los?« rief ich und zupfte eine

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