Die Stimme
geschah, nur der Müller schuld, obwohl ich das anfangs noch nicht einsah. Na, Ihr wißt schon, wie das so ist. Man zieht an einem Faden, den man kaum beachtet hat, und schon rebbelt das ganze Strickzeug auf. Und erst später geht einem dann auf, was für geringfügige Dinge all die großen nach sich gezogen haben – aber das konnte man damals natürlich nicht wissen. Mit dem Müller war das so: Der log und betrog, und niemand kam von der Mühle mit einem ehrlichen Maß zurück. Aber in diesem Frühling trieb er es eines schönen Tages gar zu arg, und so kamen Vater und mein Stiefbruder Will rasend vor Zorn vom Mahltag in der Mühle von St. Matthew's zurück. Vater war so wütend, daß er vor der Haustür seinen Hut zu Boden warf und mordsmäßig fluchte.
»Der Teufel hole den Müller! Ich könnte schwören, daß er mir wieder zu wenig gegeben hat, diese Ausgeburt der Hölle!«
Der Müller hatte aber nur das Monopol vom Abt, da konnte man nichts machen, oder? Gar nichts, dachten wir alle. Er war nun einmal ein Dieb und eine Landplage wie Ratten oder kleine Vögel. Aber Vögel erfreuen uns wenigstens noch durch ihren Gesang, während alles was der Müller je von sich gab, Zeugenaussagen vor Gericht waren. Denn wenn jemand aufbegehrte und die Hand gegen ihn erhob, schwor der Müller Stein und Bein, er wäre angegriffen worden, und dann mußte derjenige eine Strafe zahlen. In St. Matthew's wurde regelmäßig Gerichtstag abgehalten, und der Abt nahm durch den Müller ebensoviel an Bußgeldern ein wie an Pacht. Jetzt, da ich älter bin, meine ich, sie steckten unter einer Decke, denn der Abt verstand es, aus allem, was er anfaßte, Geld zu schlagen.
Auch Vater war dem Müller einmal in die Falle gegangen. Eines Tages war er mit Bruder Will und Tom dem Küfer und etlichen anderen zur Mühle gegangen. Nachdem sie lange auf die Rückgabe des Mehls gewartet hatten, gerieten sie außer sich, als sie feststellen mußten, daß es noch weniger war, als sie erwartet hatten. Sogar ein Kleinkind hätte sehen können, daß er zu knapp gewogen hatte, behauptete jedenfalls Vater. Wie er uns abends erzählte, hatte er gesagt: »›Du Leibeigener, du, du hast mir falsches Maß gegeben!‹ Und der Müller hatte gleichmütig wie ein toter Fisch erwidert: ›Das ist üble Nachrede, und das gleich zweimal, denn erstens habe ich richtig gewogen, und zweitens bin ich ebenso freigeboren wie du.‹«
In der nächsten Woche war Gerichtstag, und Vater wurde vorgeladen, wobei er das halbe Dorf mitnahm, darunter auch Mutter und mich. Der Abt hatte einen großen Saal für die Gerichtssitzungen, der zum weiteren Kirchengelände gehörte. Zuweilen schickte er seinen Verwalter für die niedere Gerichtsbarkeit auf die Ländereien der Abtei, doch Vergehen in St. Matthew's mußten auch dort verhandelt werden.
Während ich zusah, wie der Abt Recht sprach, wurde mir immer bänglicher zumute. Das war der härteste Mann, den ich meiner Lebtage gesehen hatte – fett vom faulen Leben, aber mit einem stechenden, gelben Augenpaar wie ein Falke und einer langen, unangenehmen, normannischen Nase. Seine habgierigen Hände waren mit Ringen bedeckt, und er verhängte Bußgelder und Strafen mit dem dünkelhaften, trägen Tonfall eines Menschen, der seit langem daran gewöhnt ist, daß man ihm dient. Nichts, kein Wort und kein Blick, entging diesen durchdringenden Augen. Bußen für Unzucht, Bußen für entlaufene Tiere, der Pranger für eine Klatschtante, Brandmarkung für einen entlaufenen Leibeigenen – er richtete schnell, die Halsgerichtsbarkeit wurde gleich draußen im Hof vollstreckt.
Direkt vor Vaters Fall kam ein ganz anders gearteter an die Reihe. Ein reich gekleideter Kaufmann, blaß und sauber rasiert, war von Northampton gekommen und forderte Gerechtigkeit für den Diebstahl von Waren durch einen Mann, mit dem er in St. Matthew's Geschäfte gemacht hatte. Als der Mann das Urteil hörte, erbleichte er und rief: »Du ungeheuerlicher Lügner!« ehe man ihn hinausführte, um ihm im Hof die Hand abzuhacken. Was mich so berührte, war der Ausdruck auf dem Gesicht des Kaufmanns. Er lächelte. Man hätte es fast als gütig bezeichnen können, dieses Lächeln, welches er dem Mann mitten ins Gesicht lächelte. Sein Mund zog sich in die Breite, Lachfältchen bildeten sich ringsum – aber seine blauen Augen blickten so kalt wie Eis. Was für ein gräßlicher Mann, dachte ich, während ich zusah, wie sie einander anblickten. Als der Kaufmann den Saal verließ,
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