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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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um bei der Ausführung des Urteils zugegen zu sein, kam er im Hinausgehen dicht an mir vorbei, wo ich mit meiner Mutter stand. Ich wandte die Augen ab, starrte zu Boden, und so war mein letzter Eindruck von ihm nur das leise Geräusch, das seine dunklen Schnabelschuhe im Dahingehen machten.
    Als Vaters Fall aufgerufen wurde, stand er unerschrocken auf. Zunächst sagte der Müller aus. Vater hätte ihn verleumdet, behauptete er, und er wolle sein Recht. Aber Vater hielt dagegen, er sei ein Freigeborener und fordere ein Geschworenengericht von Freisassen. Der Abt, den die lange Sitzung schon ermüdet hatte, rutschte mit ungeduldiger Miene auf seinem prächtigen Stuhl hin und her. Seine Goldkette klirrte, ehe sein Kruzifix wieder auf den Falten aus Fett und Seide auf seinem Bauch zur Ruhe kam. Träge hob er eine fleischige, beringte Hand und sagte Vater kalt, daß Verleumdung ein zu geringes Vergehen für ein Geschworenengericht sei und daß er ohnedies seinem Lehnsherrn unterstünde. Hatte er diese Verleumdung ausgesprochen?
    »Nein!« erklärte mein Vater furchtlos, er hätte dergleichen nie gesagt, und um das zu beweisen, hätte er sich aus dem Dorf sechs Eideshelfer mitgebracht, alles Zeugen, die bereit wären, aufs Kreuz zu schwören, daß sich mein Vater der Verleumdungen nicht schuldig gemacht hätte.
    Die gelben Augen des Abtes wurden schmal wie die einer heimtückischen Katze. Ich glaube, er mochte es nicht, wenn man ihm die Stirn bot, und hielt Zusammenhalt unter den Dörflern für ein schlechtes Zeichen. Der knochige Müller ergrimmte und verzog das Gesicht zu einem Bild gekränkter Unschuld.
    Außerdem, so fuhr Vater fort, könne er derlei nie gesagt haben, schließlich wisse alle Welt, daß der Müller nicht nur ein Freigeborener sei, sondern auch, daß er einen Teil seines Mahlgutes an seinen Lehnsherrn abgeben müsse. Und wenn er heimlich Mehl von Leuten einbehielte, die bei ihm mahlten, so würde er damit doch auch den Abt betrügen, »etwas, das unseres Wissens ein so ehrlicher Mann wie er nie und nimmer tun würde«.
    Endlich begriff ich, worauf mein Vater hinauswollte und warum er so viele Nächte aufgeblieben war, um mit den anderen den schlauen Schlachtplan zu entwerfen. Die gelben Augen des Abtes blickten jetzt belustigt. Dem Müller schlotterten die Knie – nicht heftig, aber durchaus sichtbar. Der Abt blähte die fahlen Hängebacken auf wie eine Kröte und warf dem zitternden Müller einen stechenden, harten Blick zu. Dann faßte er sich, setzte seine übliche, anmaßende Miene auf und sagte herablassend:
    »Na gut, hören wir uns also die Eideshelfer an.«
    Nachdem das Zeugnis gehört worden war, tat der Abt etwas, das ganz und gar nicht zu ihm zu passen schien. Er wies die Klage mit der grimmigen Warnung ab, daß nie wieder eine Beschwerde wegen falschen Maßes ohne Beweise vor Gericht gebracht werden dürfe. Und dann geschah etwas Seltsames. Als der Abt die Dorfbewohner entließ, blickte er sich im Saal um, und unsere Blicke trafen sich, wo ich mit Mutter stand und ihn aus dem Hintergrund des Saales anstarrte. Er musterte mich einen Augenblick eingehend und wandte dann jäh, so als hätte er genug gesehen, den Kopf ab, während wir einer nach dem anderen den Saal verließen.
    Wir schwiegen noch den halben Heimweg lang, denn das Gesinde des Abtes sollte unseren Jubel nicht mithören. Dann aber feierten wir natürlich die ganze Nacht durch, wobei jeder seine Rolle im Spiel vor den Nachbarn herausstrich, die zu Haus geblieben waren. Während Mutters Ale ausgeschenkt wurde, zog Vater den Dudelsack hervor, andere liefen, um die Trommeln und Fideln zu holen. In jener Nacht wurde ebenso wild getanzt wie getrunken, und sogar Vater Ambrose machte mit, denn auch er hatte falsches Maß erhalten. Für ein Weilchen, nachdem man dem Müller eins ausgewischt hatte, murrte man noch über die Habsucht des Abtes und drohte, die Zehntscheuer anzustecken, aber das getraute sich denn doch niemand. Und weil nichts von Dauer ist, so nahm auch der Müller bald wieder seine alten Betrügereien auf.
    Und so kommen wir denn zu jenem Tag, an den ich mich noch so gut erinnere, als nämlich Vater wünschte, der Teufel solle den Müller holen. Bei Vaters Worten blickten Will und Rob sich vielsagend an, und da wußte ich, daß etwas im Busch war. Obwohl sie sonst nichts als Ärger machten, gaben sie auf einmal Ruhe und ließen sich lange Zeit weder im Haus noch auf der Dorfstraße blicken. Das konnte mir nur recht sein,

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